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ERBE EINER DIKTATUR // 40 Jahre nach dem Putsch in Chile

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Chile spielt auf der politischen Weltkarte eine
überwiegend zu vernachlässigende Rolle. Das 17
Millionen-Einwohner_innenland, das sich im äußersten
Südwesten der Amerikas auf einer Länge
von 4.300 Kilometern eingeengt zwischen den
Anden und dem Pazifik befindet, taucht in den europäischen
Medien nur selten auf. Selbst der Besuch
des chilenischen Präsidenten in Deutschland
ist kaum eine Nachricht wert. Das war allerdings
nicht immer so. In der Geschichte der Linken in
Deutschland war Chile einer von vielen Bezugspunkten,
an dem sich nach der Wahl von Salvador
Allende 1970 Revolutionsträume von einem
demokratischen Sozialismus orientierten. Doch
die vielen unter der Regierung der Unidad Popular
begonnenen Projekte fanden ein jähes Ende. Der
Militärputsch am 11. September 1973 begrub den
Traum eines gerechteren Chiles. Der Regierungspalast
La Moneda wurde von Kampfflugzeugen
der chilenischen Streitkräfte bombardiert, Salvador
Allende kam ums Leben – ob durch Mord
oder Selbstmord ist bis heute strittig. Tausende
Chilen_innen wurden in den folgenden Tagen und
Wochen inhaftiert, gefoltert und ermordet, am
Ende der Militärdiktatur sollten es mehr als 3.000
Tote und Verschwundene sowie zehntausende
Gefolterte sein. Während dieser 17 Jahre waren
die Menschenrechtsverletzungen der Regierung,
nicht zuletzt wegen der vielen Exilierten, auch in
der deutschen Linken ein wichtiges Thema. Insgesamt
500.000 Chilen_innen verließen ihr Heimatland.
Während Pinochet auf die freundliche
Unterstützung von deutschen Politiker_innen wie
Franz-Josef Strauß zählen konnte, wurde von Bewegungsseite
die chilenische Militärregierung kritisiert
und die Opposition unterstützt.
Die damalige Solidarität mit der vorangegangenen
Unidad Popular-Regierung führte unter anderem
zur Gründung der Lateinamerika Nachrichten.
Am 28. Juni 1973 erschien unter dem Namen
Chile-Nachrichten die erste Ausgabe. Etwa 15 bis
20 Personen, die in Chile zuvor Faszination und

Probleme des sozialistisch-demokratischen Aufbruchs
miterlebt hatten, hatten in Deutschland
zunächst das Komitee Solidarität mit Chile ins
Leben gerufen. Anfangs sollten für die Kommunikation
innerhalb des Komitees alle zwei Wochen
aktuelle Informationen über die sich zuspitzende
politische Lage zusammengetragen werden, die
erste Nummer bestand aus acht eng bedruckten
Seiten. Insgesamt 50 Exemplare davon wurden
von Matrizen gezogen und an einige Freund_innen
geschickt. Nach dem Putsch stieg das zuvor
geringe Interesse an Chile innerhalb der westdeutschen
Linken sprunghaft an, die Solidaritätsbewegung
erhielt enormen Zulauf. In vielen
Städten der BRD gründeten sich Chile-Komitees,
die unter anderem Demonstrationen, Proteste
und Hilfsaktionen für exilierte Chilen_innen organisierten.
Ende 1973 betrug die Auflage der
Chile-Nachrichten bereits 6.000 Stück, später erreichte
sie zeitweise bis zu 8.000 Exemplare. Der
Umfang der einzelnen Ausgaben stieg rasch auf
60 Seiten, die Zeitschrift erschien fortan monatlich.
Um die vielen angesammelten Dokumente
zu archivieren und der Öffentlichkeit zugänglich
zu machen, wurde 1974 das Forschungs- und
Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika
(FDCL) gegründet, das mit den LN bis heute eng
kooperiert.
Thematisch drehte sich zunächst fast alles um
Chile. Mit der Zeit gerieten mehr und mehr Nachbarländer
Chiles in den Fokus, in denen ebenfalls
das Militär regierte und ganz ähnliche politische
Bedingungen herrschten. Spätestens nach dem
Putsch in Argentinien am 24. März 1976 wurde
die Berichterstattung der Chile-Nachrichten zunehmend
breiter und der Anteil an Chile-Artikeln
kleiner. Als Konsequenz erschien die Zeitschrift
ab der Nummer 51 im September 1977 unter
dem bis heute bestehenden Namen Lateinamerika
Nachrichten, zunächst mit dem Zusatz „5.
Jahrgang der Chile-Nachrichten”. Elf Jahre später
verschwand der alte Name auch aus dem Untertitel.
2013 jährt sich der Putsch zum 40. Mal, genauso
wie das Bestehen der Lateinamerika Nachrichten.
Grund genug, einen etwas genaueren Blick
auf Chile zu werfen. 40 Jahre Putsch in Chile
bedeuten auch 40 Jahre neoliberale Reformen.
Während in Europa beim Stichwort Neoliberalismus
die Namen Thatcher, Reagan und vielleicht
auch Schröder und Blair fallen, war Chile unter

Federführung der sogenannten Chicago Boys, in
den USA ausgebildeten Wirtschaftwissenschaftler_
innen, das Experimentierfeld für neoliberale
Politiken.
Die in der Militärdiktatur umgesetzten Reformen,
die die sozialen Errungenschaften ihrer Vorgängerregierungen
zunichte machten, sind bis heute
maßgeblich für das politische und wirtschaftliche
Leben in Chile. Die Privatisierungen im Gesundheits-
und Bildungssektor, die Rücknahme der
Landreformen, die Arbeitsgesetze, die strafrechtlichen
Mechanismen, das Wahlrecht, dies und
vieles mehr sind auch heute, 23 Jahre nach dem
Ende der Diktatur, Eckpfeiler chilenischer Institutionalität.
Denn entgegen vieler Erwartungen
hat das linke Parteienbündnis Concertación, dem
auch Salvador Allendes Sozialistische Partei angehört,
in 20 Jahren Regierungsverantwortung von
1990 bis 2010 das neoliberale Modell und die von
der Pinochet-Administration 1980 verabschiedete
Verfassung nicht angetastet. Ähnlich steht es um
die Vergangenheitsbewältigung. Die juristische
Aufarbeitung der Verbrechen verläuft bruchstückhaft
und nur wenige Mörder und Folterer mussten
bisher in Haft.
Die Kontinuitäten zwischen Militärdiktatur und
der aktuellen Politik wurden lange Zeit unwidersprochen
hingenommen. Nicht zuletzt aus Angst
vor dem übermächtigen Militär, dem auch heute
noch zehn Prozent der Einnahmen des riesigen
chilenischen Staatskonzerns Codelco zustehen.
Gerade in der Anfangszeit der neuen Demokratie
stellte die Armee ihre Macht zur Schau. In Erinnerung
geblieben ist hierbei vor allem der Boinazo,
bei dem Augusto Pinochet Ermittlungen wegen
Korruption gegen sich und seinen Sohn dadurch
verhinderte, dass er am 28. Mai 1993 bewaffnete
Spezialeinheiten 200 Meter vom Regierungssitz
auflaufen ließ. Aber auch nachdem die Bedrohung
durch das Militär nicht mehr so virulent war, zeigten
die gewählten Regierungen keine Bestrebungen,
etwas an der Situation Chiles zu verändern,
was auch lange ohne großen Widerstand der Bevölkerung
funktionierte.
Neben den Mapuche, die sich immer in Konflikt
mit dem chilenischen Staat befanden, waren es
die Schüler_innen, die sich mit moderaten Forderungen
gegen die neoliberale Bildungspolitk
richteten. Sie waren die ersten, die, wenn auch
erfolglos, auf die vielen Widersprüche im neoliberalen
Musterland Chile hinwiesen.

Während Tomás Hirsch, Präsidentschaftskandidat
für die Wahlen 2009 im Interview mit den LN zu
den sozialen Bewegungen noch sagte, in Chile
gäbe es „immer weniger solcher Organisationen
und sie bluten aus”, hat sich die Lage vier Jahre
später dramatisch verändert. Nachdem im April
2011 erstmals groß gegen HidroAysén, ein Megastaudammprojekt
im Süden Chiles, demonstriert
wurde, etablierte sich kaum einen Monat
später die auch in den LN viel diskutierte Studierenden-
und Schüler_innenbewegung, die sich
zunächst auf Bildungsthemen beschränkte, mittlerweile
aber eine gänzliche Abkehr vom neoliberalen
System fordert.
Das Aufkommen dieser Bewegung weckte die
chilenische Zivilgesellschaft aus der Jahre währenden
Apathie. Mittlerweile regt sich an allen
Ecken und Enden Widerstand gegen die Regierungspolitiken.
Im nördlich gelegenen Freirina
wurde so eine riesige Schweinemastfarm verhindert,
die Bewohner_innen der abgelegenen Provinz
Aysén erkämpften sich Zugeständnisse von
der Regierung, und selbst wenn das Bildungssystem
in Chile immer noch kaum verändert besteht,
müssen sich die Herrschenden mit konstanter

Mobilisierung arrangieren. Dieses Arrangieren
geschieht allerdings weniger mit dem Versuch,
die Forderungen zu integrieren und die Proteste
zu befrieden. Vielmehr wird die Repression über
die versuchte Verabschiedung neuer Gesetze verschärft.
Allerdings zeichnet sich bis jetzt nicht ab,
dass die vielfältigen neuen sozialen Bewegungen
sich von der Repression einschüchtern lassen.
Mit dem vorliegenden Dossier möchte die Redaktion
der Lateinamerika Nachrichten die Hintergründe
der heutigen Situation beleuchten. Zunächst
zeigt LN-Mitbegründer Urs Müller-Plantenberg
die Kontinuitäten des unter der Militärdiktatur
eingeführten neoliberalen Wirtschaftssystems
auf. Markus Thulin beleuchtet in seinem Beitrag
exemplarisch die konkreten Folgen des Neoliberalismus
für das chilenische Gesundheitssystem.
Anschließend beschreibt Oliver Niedhöfer einige
Absurditäten des ebenfalls noch aus Diktaturzeiten
stammenden binominalen Wahlsystems.
Über die schwache Position der Gewerkschaften
schreibt Nicolás Véliz Rojas. Auch wenn sich die
Menschenrechtslage im Vergleich zur Diktatur
deutlich gebessert hat, reagiert der chilenische
Staat auf Proteste mit Repression, wie David

Rojas Kienzle in seinem Beitrag aufzeigt. Insbesondere
trifft die Repression die Studierendenbewegung,
die Steve Kenner vorstellt und die indigenen
Mapuche im Süden des Landes. Über die
Hintergründe des Mapuche-Konliktes berichtet
Llanquiray Painemal.
Dass es die LN ohne die Solidarität mit Chile gar
nicht gäbe, liegt auf der Hand. Was aber hat die
internationale Solidaritätsbewegung mit Chile
sonst gebracht? Das haben wir verschiedene Protagonist_
innen der damaligen Zeit aus Chile und
Deutschland gefragt. Bei einem Thema, zu dem
Teile der Solibewegung in der BRD gearbeitet haben,
gab es einen direkten Bezug zu Deutschland.
Über die abstoßende Sektensiedlung Colonia
Dignidad, die der deutsche Kinderschänder Paul
Schäfer 1961 gegründet hatte, schreibt Friedrich
Paul Heller. Dieter Maier geht anschließend der
Frage nach, warum sich Pinochet so lange an der

Macht halten konnte. Interviews mit einer Exilchilenin,
die in die BRD kam und einem Exilchilenen,
den es in die DDR verschlug, geben Einblicke in
das Leben im Exil. Dass sich Chile mit der Aufarbeitung
der Vergangenheit noch immer schwer
tut, während das Nachbarland Argentinien bedeutende
Fortschritte zu verzeichnen hat, beschreibt
Maja Dimitroff. Schließlich wirft Leonor Abujatum
einen Blick auf chilenische Literatur, in der die Vergangenheit
deutlich besser aufgearbeitet wird als
auf politischer ebene in Chile.
Bei der Fülle möglicher Themen kann kein Anspruch
auf Vollständigkeit bestehen.Wir hoffen,
inhaltliche Lücken durch eine kontinuierliche Berichterstattung
zukünftig ausfüllen zu können. Mit
diesem Dossier starten wir in den 41.Jahrgang
der einstigen Chile-Nachrichten. Viele weitere der
LN werden folgen.

 

 

INHALT

4 Das schwierige Erbe der Diktatur // Ein
Dossier über Chile 40 Jahre nach dem Putsch
9 Autoritäre Experimente // Wie der Neoliberalismus
in Chile seinen Siegeszug antrat
13 Von Gesundheitsbrigaden zu privaten
Dienstleistern // Das chilenische Gesundheitssystem
vor und nach dem Militärputsch von 1973
16 Die Wahl der Qual // Das chilenische Wahlsystem
ist ein Erbe der Diktatur
18 Widersprüchlich und machtlos // Chilenische
Gewerkschaften sind kaum in der Lage, gegen
schlechte Arbeitsbedingungen anzukämpfen
20 Mord und Schlagstock // Im neoliberalen
Musterland Chile hat Repression viele Gesichter
24 Eine mutige Generation // Mehr als zwei Jahrzehnte
nach Ende der Militärherrschaft erobert
die chilenische Jugend die Straßen zurück
28 Landraub in Wallmapu // Der Konflikt zwischen
chilenischem Staat und den Mapuche
reicht bis in die Kolonialzeit zurück

31 Solidarische Stimmen // Eine kleine, nicht-repräsentative
Bilanz der Chile-Solidaritätsbewegung
34 Ein offenes Kapitel // Die Colonia Dignidad
und die bundesdeutsche Solidaritätsbewegung
37 Vom Putschisten zum Langzeitdiktator //
Wie sich Pinochet 17 Jahre lang an der Macht
halten konnte
40 „Ich bin ein Weltmensch”// Interview mit Eva
Tichauer Moritz über ihr Exil in der BRD
42 „Ich bin stolz, ein ausländischer Ossi zu
sein”// Interview mit Mario Fuentes Delgado
über sein Exil in der DDR
44 Die dunklen Schatten der Geschichte // Unterschiedliche
Aufarbeitung der Vergangenheit
in Argentinien und Chile
48 Grauzonen, dunkle Flecken, schwarze
Löcher // Das Gespenst der Diktatur im zeitgenössischen
chilenischen Roman
51 Tipps zum Weiterlesen

 

 

 

// IMPRESSUM
HERAUSGEBER: LATEINAMERIKA NACHRICHTEN
Erscheint als Dossier Nr. 8 innerhalb der LN 469/470 (Juli/August 2013) sowie als separate Themenbroschüre.
Redaktion: Redaktionskollektiv der Lateinamerika Nachrichten
V.i.S.d.P. Maja Dimitroff, Laura Haber, Tobias Lambert, Elena von Ohlen, David Rojas-Kienzle, Patricia Schulze
Gefördert von ENGAGEMENT GLOBAL im Auftrag des
Der Herausgeber ist für den Inhalt allein verantwortlich
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