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FDCL, 1983

LEBEND WURDEN SIE VERSCHLEPPT-
LEBEND WOLLEN WIR SIE ZURÜCK

 

Eine Dokumentation zur Repression in Argentinien
und
den deutsch-argentinischen Beziehungen

 

 

Herausgeber
Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile - Lateinamerika (FDCL)
Ökumenisch-Missionarisches Institut, Berlin

Edition FDCL 5
Redaktion: Jutta Borner, Peter Kranz, Tino Thun

 

INHALT
Vorbemerkung
Beschluß der Evangelischen Regionalsynode Berlin-West

TEIL 1: DAS SYSTEM DER REPRESSION IN ARGENTINIEN
Dokumente des Centro de Estudios Legales y Sociales (CELS)
- Die Entführung als Methode der Inhaftierung
- Die verschwundenen Kinder
- Verhaftet-verschwundene Jugendliche
- Geheime Haftzentren
- Politische Morde
Brief einer Großmutter "der Plaza de Mayo" an ihre "verschwundene" Enkelin
"Wenn Du nicht schweigst, ist Dein Leben aus"
Die Toterklärung der Verschwundenen
Das Gesetz zur Legalisierung der Verbrechen
Argentiniens Militärs amnestieren sich selbst
Die Mütter der Plaza de Mayo: Interview

TEIL 2: DEUTSCHE VERHAFTET-VERSCHWUNDENE UND DIE DEUTSCH-ARGENTINISCHEN BEZIEHUNGEN
Auszug aus dem Abschlußbericht der Delegation aus der EKD (Januar 1983)
Presseerklärung von ai zu den deutschen Verschwundenen
Zeitungsanzeige: Deutsche Politiker fragen nach Verschwundenen
Botschafter: Haarsträubende Art
Briefwechsel zwischen den Angehörigen deutscher Verhaftet-Verschwundener und der Bundesregierung
Strafanzeige gegen Außenminister Genscher
Zeugenaussage über die Entführung von F. J. Tatter
Klage gegen Genscher: "Ungenügende Hilfe"
Ernst Käsemann: "Tod im argentinischen Dschungel"
Rüstungsexporte der BRD nach Argentinien
Auszüge aus Bundestagsdebatten zu Argentinien
Presseerklärung einer SPD-Delegation
EG verhängt totales Embargo
Falklands und Waffenmarkt
Osvaldo Bayer: Ehrung für den Zensor

Literaturhinweise

 


VORBEMERKUNG
LEBEND WURDEN SIE VERSCHLEPPT - LEBEND WOLLEN WIR SIE ZURÜCK. Das ist die wichtigste Forderung der Mütter der P1aza de Mayo, der argentinischen Mütter, die sich seit sieben Jahren um Aufklärung des Schicksals ihrer Kinder bemühen, stellvertretend für etwa 30 000 VERHAFTET-VERSCHWUNDENE.
Seit dem verlorenen Krieg um die Malvinen-Inseln (1982) ist dieses Thema zum zentralen Problem der argentinischen Innenpolitik geworden. Evangelische Kirchen, Parteien und Gewerkschaften haben nach langem Zögern diese Forderung der Menschenrechtsorganisationen aufgegriffen. Das Militär, das seinen Rückzug in die Kasernen vorbereitet, will dagegen um jeden Preis die Aufklärung der Verbrechen der Diktatur verhindern.
Nachdem jahrelang geleugnet wurde, daß die "Verschwundenen" existieren, sahen sich die Streitkräfte unter dem Druck der Beweise der Menschenrechtsorganisationen und der Öffentlichkeit gezwungen, zu ihren Verbrechen Stellung zu nehmen.
Am 28.April 1983 erklärte Staatspräsident General Reynaldo Bignone, die Verhaftet-verschwundenen seien alle tot.. Während des "schmutzigen Krieges", wie das Regime die Verfolgung der unbewaffneten Opposition und die Zerschlagung der bewaffneten Opposition nennt, habe es übergriffe gegeben. Dabei seien auch Menschen verschwunden, wie das in jedem Krieg der Fall sei. Von diesen Verschwundenen aber sei niemand mehr am Leben, geschweige denn in geheimen Haftzentren der Militärs. Weitere Nachforschungen und die Forderung nach dem lebendigen Wiederauftauchen der Verhaftet-Verschwundenen seien daher sinnlos.
Diese Erklärung ist blanker Zynismus. Seit der Gewaltherrschaft der Nazis hat es kein Regime mehr gewagt, einfach Tausende von Menschen für tot zu erklären - ohne Aufklärung der Todesumstände, ohne Nachweis über das Schicksal der einzelnen!
Nicht nur in Argentinien selbst, sondern auch in der internationalen Öffentlichkeit herrscht Empörung über diese "Erklärung" der Diktatur. Der ehemalige Widerstandskämpfer und heutige Staatspräsident Italiens, Sandro Pertini, verurteilte mit einhelliger Unterstützung der italienischen Parteien den "grausamen Zynismus der Militärs" und fügte hinzu, die Verantwortlichen hätten "sich selbst außerhalb der zivilisierten Menschheit gestellt" (FR, 2.5.1983).
Bundesaußenminister Genscher dagegen konnte sich in seiner Eigenschaft als derzeitiger Ratspräsident der Europäischen Gemeinschaft lediglich zu einer vorsichtigen Erklärung durchringen: "Das von der Militärjunta am 28. April veröffentlichte Dokument kann nicht als ausreichende oder endgültige Antwort auf die zahlreichen Anfragen der Zehn bei der argentinischen Regierung mit der Bitte um Klärung des Schicksals der verschwundenen Personen akzeptiert werden " (FR, 7.5.1983).
Die argentinischen Menschenrechtsorganisationen verfügen über Beweise, daß keineswegs alle Verhaftet-Verschwundenen tot sind. Es gilt, diese Oberlebenden zu retten, ehe die Militärs ihre Toterklärung durch die Ermordung der Zeugen ihrer Verbrechen im Nachhinein wahrmachen.
Die Militärjunta hat gemeinsam mit der "Erklärung" über die Verschwundenen ein Dekret erlassen, das feststellt, daß alle "Operationen" seit 1976 mit Wissen und Billigung der Junta und der Oberbefehlshaber in Obereinstimmung mit den (verfassungswidrigen) Gesetzesdekreten der Diktatur durchgeführt worden seien. Kein ziviles Gericht soll damit die Verbrechen der Streitkräfte untersuchen dürfen, da sie per Gesetz für legal erklärt worden sind. Über die Morde, die Verschleppungen, die systematische Folter soll ein "Mantel des Vergessens" gebreitet werden.
In dieser Situation haben die Dokumentationen der argentinischen Menschenrechtsorganisation CELS innenpolitische Sprengkraft. Akribisch hat CELS Fakten und Daten über das Repressionssystem gesammelt und in den letzten Monaten veröffentlicht. Die Dokumentationen, die wir hier erstmals der bundesdeutschen Öffentlichkeit zugänglich machen, beschreiben die Struktur und Funktiori des Systems des Verschwindenlassens von Personen, diä besonders grausamen Fälle verschwundener Kinder - die entweder gemeinsam mit ihren Eltern verschleppt oder in der Haft geboren wurden - sowie die Systematik der politischen Morde des Regimes.
Wie die Mütter der Plaza de Mayo für ihre Forderungen kämpfen und welchen Einsatz dieser Kampf jeder Einzelnen abverlangt, beschreibt die Vorsitzende der Mütter, Hebe P. de Bonafini, in einem ausführlichen Interview.
Unter den 30 000 Verhaftet-Verschwundenen sind Menschen aus 25 Ländern, darunter - nach letzten Erkenntnissen - 72 Deutsche und Deutschstämmige, viele Kinder von deutschen Exilierten, von deutschen Juden, die während der Nazi-Herrschaft nach Argentinien geflüchtet sind.
Wie die Artikel und Dokumente im 2. Teil des Buches zeigen, hat sich die deutsche Bundesregierung kaum für die Respektierung der Menschenrechte in Argentinien im Sinne der UN-Menschenrechtscharta eingesetzt, vielmehr selbst die eigenen Staatsbürger vernachlässigt, die in die Hände des Militärregimes gefallen sind. Stattdessen pflegt sie - und hier gibt es eine echte Kontinuität zwischen sozialiberaler und christlich-liberaler Koalition - beste wirtschaftliche Beziehungen zu der Militärdiktatur. Sie scheut selbst nach dem von den argentinischen Generälen angezettelten Malvinenkrieg nicht vor Rüstungsexporten an die Diktatoren zurück.
Gerade nach der zynischen Toterklärung der 30000 Verhaftet-Verschwundenen ist zu fordern, daß die Bundesregierung ihre Zustimmung zu Rüstungsexporten, zu Exportbürgschaften und Kreditvergabe beim Export von Atomkraftwerken an den Grundsätzen der UN-Menschenrechtscharta mißt und sich aktiv für das Leben der verhaftet-verschwundenen Deutschen und Argentinier einsetzt.

FDCL, Berlin, 1983