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Offener Brief an die Nürnberger Staatsanwaltschaft
und die deutschen Bürger/innen


Vielleicht ist die deutsche Bevölkerung nicht so gut informiert über die Verbrechen, die wir vor der Staatsanwaltschaft Nürnberg versucht haben anzuzeigen. Im jetzigen Zeitpunkt drohen diese Verbrechen in dem Archiv der Straflosigkeit abgelegt zu werden.

Deshalb möchte ich als Tochter jüdischer Deutscher, die in der Nazizeit emigrierten, als "legale" Deutsche mit deutschem Pass, als "Verhaftet-Verschwundene (desaparecida)" aus dem argentinischen Konzentrationslager ESMA, und damit als eine der wenigen Überlebenden von mehr als hundert Deutschen und Deutschstämmigen, die während der argentinischen Diktatur 1976-1983 "verschwanden", folgendes zu Ihrer Kenntnis bringen:

1. Die Militärs des südlichen Teils Lateinamerikas erarbeiteten zusammen mit dem US-Geheimdienst CIA in den siebziger Jahren einen Kooperationsplan, den so genannten "Plan Condor", mit dem Ziel, durch Zusammenarbeit bei der Repression gegen die Bevölkerung der Länder im Süden Lateinamerikas ein neoliberales Wirtschaftsmodell einzuführen. Der zu erwartende Widerstand der Bevölkerung gegen dieses Wirtschaftsmodell sollte durch die länderübergreifende Repression erstickt werden. In Argentinien wurde für diese Repression das Modell des "Verschwindenlassens" gewählt. Das uruguayische Modell der legalen Gefängnishaft und das chilenische Modell der brutalen Massaker hatten offenbar den Staatsterroristen dieser Länder nicht genügt.

2. Über hundert Deutsche und Deutschstämmige "verschwanden" während der Militärdiktatur 1976-1983. Viele von ihnen werden von der Nürnberger Staatsanwaltschaft nicht als Deutsche anerkannt, weil ihre Eltern - denen als Juden von den Nazis die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen worden war - die Staatsbürgerschaft nicht erneut in den deutschen Botschaften ihrer Exilländer beantragt hatten. Vielleicht, weil sie keine Notwendigkeit für dieses Verfahren sahen, vielleicht weil es für sie nicht problemlos war, etwas im Zusammenhang mit ihrem Ursprungsland zu erbitten, welches sie vertrieben und enteignet und ihre Familienangehörigen ermordet hatte. Die vermeintlich so demokratischen Regierungen, die in Deutschland auf den Nazismus folgten, hatten niemals die Notwendigkeit empfunden, diesen Deutschen - von denen einige im Ersten Weltkrieg "ihr Vaterland" verteidigt hatten - ihre Staatsbürgerschaft wieder zuzuerkennen. Die deutsche Justiz betrachtet sie nicht als Deutsche.

3. Das "Verschwindenlassen" von Personen ist ein Tatbestand, der in Argentinien nicht verjährt. Täglich erneuert sich das Delikt. Seit ca. 25 Jahren geschieht tagtäglich das Verbrechen gegen 30.000 Personen weiter. Wenn der Leichnam von einem der "Verschwundenen" auftauchte, würde das Verbrechen als Mord deutlich werden. Mit den Worten von Videla, dem Chef der Militärjunta, die die rechtmäßige Regierung stürzte und von Deutschland als legitim anerkannt wurde: "Die Verschwundenen sind nicht tot noch lebendig: sie existieren nicht, es gibt sie nicht". Diese psychotisierende Doppelbotschaft von Anwesenheit/Abwesenheit, diese Kriegserklärung gegen das Leben, dauert in ihren Konsequenzen bis heute an und beschädigt die kollektive psychische Gesundheit. Hinzu kommt die in Argentinien herrschende Straflosigkeit, die in der Bevölkerung einen Zustand der Unsicherheit, Schutzlosigkeit, Lähmung und emotionaler Implosion hervorruft.

 

4. Es gab Gruppen, die die Verbrechen anklagten, wie die Mütter der Plaza de Mayo und die Großmütter, die ihre von den Entführern und Mördern geraubten Enkelkinder suchten. Sie wuchsen an ihrem individuellen familiären Schmerz zu einer enormen moralischen Statur, die die Welt heute an ihnen bewundert. Von der Militärjunta dagegen wurde versucht, sie als krank darzustellen, indem sie sie als "die Verrückten von der Plaza de Mayo" titulierten. Die Familien wurden zuvor über die Medien (eine Wiederholung der Methoden von Goebbels bezüglich des Gebrauchs von Massenmedien und Propaganda) zu Schuldigen erklärt, durch den via Massenmedien vorgetragenen Slogan: "Wissen Sie, wo Ihr Sohn/Ihre Tochter sich gerade befindet?"

5. Das Argument der Staatsanwaltschaft Nürnberg, dass der deutsche Staat nicht eine gefährdete politische Gruppe aus einem fremden Land schützen kann, trägt nicht. Denn es handelt sich nicht um "eine politische Gruppe", sondern um die gesamte Bürgerschaft, die von den Militärs als verdächtig betrachtet wurde. Wie ein Funktionär der Junta sagte: "Zuerst holen wir die politisch Engagierten, dann ihre Sympathisanten, und zum Schluss die Unentschiedenen." Es handelte sich um einen Krieg gegen die Bevölkerung. Alle waren wir verdächtig.

Die öffentliche Meinung in Deutschland muss wissen, dass ihre Justiz sich nach Normen richtet, die die historischen Gegebenheiten nicht zur Kenntnis nehmen, und die durch ihr Nichthandeln mit der Straflosigkeit in unserem südamerikanischen Land kollaboriert. Sie verweigert Gerechtigkeit in den Fällen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und trägt auf diese Weise dazu bei, dass die ethischen und juristischen Grundlagen für Völkermorde dieser Art fortbestehen. Sie weigert sich, dazu beizutragen, dass der kollektiven Krankheit des argentinischen Volkes entgegengewirkt werden kann, denn die Straflosigkeit schreibt den Bürgern ein "normales" Zusammenleben zwischen Opfern und Tätern vor. Ich rede von "Opfern", weil ich das ganze Volk als Opfer betrachte, da das gesamte Land ein immenses Konzentrationslager in den Händen des Staatsterrorismus war.

Die deutsche Justiz erkennt ihre Kinder auf der anderen Seite des Ozeans nicht an. Sie handelt, als ob sie nicht wüsste, was Völkermord, Diskriminierung, Straflosigkeit und Verrücktsein heißt. Der Nazismus war eines der pädagogischen Vorbilder des argentinischen Terrorregimes. Aus der Geschichte hat das deutsche Beispiel lehrhaft gewirkt.

Für dieses Deutschland sind wir in Argentinien ein Spiegelbild; wir müssen in diesen Spiegel schauen.

Adriana Marcus

Zapala, Argentinien, Dezember 2004

 

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