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Vor 30 Jahren - Wie alles anfing

Von den Chile-Nachrichten zu den Lateinamerika Nachrichten

 

Peter Kranz, langjähriges Redaktionsmitglied und Mitarbeiter im Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL) bis Anfang der 80er Jahre, erzählt anlässlich des 30jährigen Bestehens der Lateinamerika Nachrichten (LN) von der Solidaritätsbewegung und politischem Engagement zu Zeiten des Putsches in Chile.

 

Am 4. April 1973, fünf Monate vor dem Putsch in Chile, wurde das erste Chile-Komitee in Heidelberg gegründet. Wenige Wochen später folgte ein zweites in Tübingen. Beide nannten sich Komitee Solidarität mit Chile. Bereits im Mai bildeten sie zusammen mit dem Frankfurter Komitee eine süddeutsche Chile-Koordination.
Ende Juni 1973 trafen sich die drei Gruppen mit West-Berliner VertreterInnen, WissenschaftlerInnen des Lateinamerika Instituts der Freien Universität Berlin und ehemaligen Chile-Reisenden, um auf einem Grundstück im hessischen Wildeck die Chile-Nachrichten zu gründen. Mit dabei waren: Reinhard von Brunn (Tübingen), Dieter Esche, Uta Litz, die Schauspielerin Elfriede Kohut-Irral, Peter Kranz (Heidelberg), Clarita und Urs Müller-Plantenberg und Peter Simon. Herausgeber der Zeitschrift wurden die Komitees Solidarität mit Chile.

 

Offen für jedermann

Die Redaktion war von Anfang an offen für jedermann. Politisch zählte sie zur undogmatischen Linken, einige wie Urs Müller-Plantenberg und Peter Kranz waren früher im SDS. Viele sympathisierten mit dem Sozialistischen Büro in Offenbach oder waren dort Mitglied. Die Chile-Nachrichten sollten den entstehenden Chile-Komitees fundierte und basisnahe Informationen aus Chile vermitteln und gleichzeitig Plattform für die Solidaritätsbewegung sein.
Im DKP- bzw. SEW-Dunst gab es ein großes Interesse an der Politik der Unidad Popular (UP) und eine Solidaritätsarbeit zu Gunsten des Partido Comunista Chile. Großes Interesse an der UP hatten aber auch weite Teile der SPD, insbesondere die Jusos, Gewerkschaften, linksliberale Kreise der FDP (u.a. auch Jürgen Möllemann), Jungdemokraten und linkschristliche Kreise aus der Evangelischen und Katholischen Kirche bis in die CDU hinein.

 

Breites Spektrum

Das breite Spektrum der Unidad Popular bot dafür gute Identifikationsmöglichkeiten: linkschristliche Parteien wie MAPU und Izquierda Cristiana, sozialistisch-sozialdemokratische Gruppen innerhalb des Partido Socialista (PS). Die Radikale Partei war Mitglied der Sozialistischen Internationale, die PS war Beobachter. Und die Partido Comunista (PC) war moskautreu. Außerhalb des Bündnisses gab es noch die linksrevolutionäre Bewegung MIR in kritischer Solidarität zur UP.
Die ersten Nummern der Chile-Nachrichten erschienen hektografiert in geringer Auflage. Das änderte sich sofort nach dem Putsch vom 11. September. Es gründeten sich weit über 1.000 Chile-Komitees und schon am 15. September eine „Europäische Koordination für die Solidarität mit Chile”. Unabhängige, kirchliche und gewerkschaftliche Gruppen, Parteigruppierungen, Schüler und Studenten, Betriebs- und Stadtteilgruppen unterstützten die Solidaritätsarbeit. Die Chile-Nachrichten erschienen vierzehntägig. Die Auflage schnellte auf mehrere tausend Exemplare in die Höhe. Schon vor dem Putsch war das Solidaritätskonto Elfriede Kohut unter dem Stichwort „Hilfe für Chile”eingerichtet worden. Der Spendenaufruf nach dem Putsch lautete: „Spendet für den Sieg der chilenischen Arbeiterklasse”.

 

Der Putsch sorgte für Zuwachs

Nach dem Putsch wuchs die Redaktion stark an. Es ging nicht nur um das Schreiben, Tippen und Layouten von Artikeln, sondern auch um das tausendfache Versenden und um normale, in jenen Tagen oft chaotische Büroarbeit. Die ersten Nummern wurden von befreundeten Drucker-Kollektiven wie Movimento-Druck kostenlos in Nachtarbeit erstellt.

 

Direkte Solidarität hatte Vorrang

In der Redaktion arbeiteten Menschen, die sich als Marxisten, Sozialdemokraten oder Christen verstanden. Die Redaktion hielt es für notwendig, umfassend zu informieren und den Diskussionsprozess innerhalb der Linken über den chilenischen Weg zum Sozialismus und sein Scheitern zu transportieren. Sie fühlte sich keiner bestimmten Partei, weder in Deutschland noch in Chile, verpflichtet. Vorrangig war immer die direkte Solidarität mit „dem kämpfenden chilenischen Volk und den Organisationen der Arbeiterklasse Chiles”. In der Nr. 6 heißt es: „Unsere Solidarität mit Chile kann keine Bedingungen kennen. Sie gilt zunächst allen, die von der Militärjunta und ihren faschistischen und ‘demokratischen’ Helfern verfolgt werden. Wir können keinen Unterschied machen zwischen Sozialisten und Kommunisten, christlichen Linken und Sozialdemokraten, Anhängern des MIR und fortschrittlichen Christdemokraten, Chilenen und Ausländern. Sie gilt natürlich auch allen, die sich gegen die Maschinerie von Mord und Terror zur Wehr setzen. Wir werden helfen müssen, wo immer das möglich ist.
Wir wollen mit unserer möglichst umfassenden Information dazu beitragen, aprioristische Verurteilungen, aber auch heroisierende Mythenbildung zu vermeiden.”
Von Anfang an wurde auch über andere Länder, etwa unter dem Stichwort „Brasilisierung Lateinamerikas”oder „Chile und Lateinamerika”berichtet: Artikel über Peru und Argentinien gab es in Nr. 7, über Peru, Argentinien und Kuba in Nr. 10.

 

Unterstützung für die Flüchtlinge

Seit der bundesdeutschen Koordinationssitzung der Chile-Komitees am 30. September 1973 galten die Chile-Nachrichten als Zeitschrift der Chile-Komitees, herausgegeben von den sieben Chile-Komitees in Berlin, Hamburg, Hannover, Heidelberg, Marburg, München und Tübingen (auch im Auftrag weiterer Komitees).
Viele Anhänger der Unidad Popular flüchteten in Santiago in die Botschaften, Hundertausende über die Anden nach Argentinien. Dies war das einzige noch demokratisch legitimierte Nachbarland Chiles. Die Mehrzahl der Länder Südamerikas waren mittlerweile diktatorisch regiert: Bolivien, Brasilien, Uruguay, Peru und Paraguay. Und im Chile der Unidad Popular gab es viele politische Flüchtlinge aus anderen Ländern Lateinamerikas, die nun nach Argentinien auswichen.
Aber auch Argentinien war bedroht von putsch-lüsternen Miltärs und Todesschwadronen wie Triple A (Alianza Argentina Anticomunista), die von rechtsradikalen peronistischen Gruppen, Polizei- oder Militär-Offizieren dirigiert wurde. Auch mafiose peronistische Gewerkschaftsbosse mischten mit. Sie alle machten Jagd auch auf Chilenen oder links orientierte Flüchtlinge aus den anderen Nachbarländern. In Deutschland kamen die ersten Flüchtlinge an. Im Auftrag der bundesdeutschen Chile-Komitees und von amnesty international Deutschland bauten deutsche Chile-Engagierte in Buenos Aires ein Flüchtlingsbüro auf. Von dort aus wurden tausende von Flüchtlingen in die Bundesrepublik, Berlin (West) und ins übrige West-Europa gelotst.
Ich selber wollte eigentlich im Oktober 1973 nach Chile ausreisen, um als Soziologe Feldstudien über basis-demokratische Organisationsformen in Elendsvierteln von Santiago de Chile zu machen. Ich bekam Einreiseverbot mit der Begründung, ich sei ein marxistischer Jude und würde Lügen über Chile verbreiten. So ließ ich mein damaliges Stipendium auf Argentinien umwidmen, weil es auch in Buenos Aires eine große politisierte Elendsviertelbewegung gab. Anfang März 1974 reiste ich nach Buenos Aires. Sigrid Fronius und Tilman Evers, die das Flüchtlingsbüro in Buenos Aires aufgebaut hatten, kehrten zurück nach Deutschland und wir setzten die immer schwierigere Arbeit im Flüchtlings-Büro in der Calle Florida fort.
Im April und Mai waren der bolivianische Ex-Präsident, General Torres, der chilenische General Prats und der uruguayische Senator Michelini, die alle im Exil in Buenos Aires lebten, in ihren von der Polizei „beschützten”Wohnungen von den Triple A ermordet worden, während der Polizeischutz „zufällig”gerade für eine halbe Stunde abgezogen war. Die Situation der Flüchtlinge wurde immer bedrohlicher. Das Innenministerium ließ im Juni 1974 unser Flüchtlingsbüro besetzen und verbot unsere Arbeit.

 

Lateinamerika im Blick

Ende 1975 kehrte ich in die Redaktion der Chile-Nachrichten zurück. Die Chile-Nachrichten sollten sich stärker für eine Lateinamerika-Berichterstattung und für Solidaritätsarbeit auch mit anderen Ländern öffnen. Mit der Ausgabe Nr.33 wurde im Januar 1976 die regelmäßige Rubrik „Chile-Lateinamerika”eingerichtet. Ab Nr. 39 (Juli 1976) gaben sich die Chile-Nachrichten schon den Untertitel „Berichte und Analysen zu Lateinamerika”. Und die Rubrik Chile-BRD wurde verändert in „Bundesrepublik”bzw. „Solidarität”. Die erste Sondernummer zu Argentinien erschien im März 1977 zum ersten Jahrestag des Putsches noch unter dem Hinweis „Sondernummer der Chile-Nachrichten”. Mit der Nr. 51 im September 1977 kam dann die Umbenennung zu „Lateinamerika Nachrichten”mit dem Untertitel „Jahrgang 5 der Chile-Nachrichten”. Und schon im Oktober erschien die erste „Sondernummer der Lateinamerika Nachrichten”zu Peru.
Die zunehmende Militarisierung und Brutalisierung der Politik in Lateinamerika nannten wir „Chilenisierung”. In Nr. 51 erläuterten wir im Editorial die neue Ausrichtung der Zeitschrift: „Wenn sich die Redaktion jetzt entschlossen hat, nach langen und intensiv geführten Debatten eine weitere Umbenennung (der Zeitschrift) vorzunehmen und einen Namen zu wählen, der Bestand haben kann, so ist damit weder beabsichtigt, die Informations- und Solidaritätsarbeit für Chile zurückzudrängen (...) Unsere Berichte und Analysen sollen vor allen Dingen den Ländern gelten, in denen die Verfolgten und Ausgebeuteten unserer Solidarität bedürfen (...) Insofern die autoritären Tendenzen des abhängigen Kapitalismus in Lateinamerika weit verbreitet sind und an Bedeutung noch zunehmen, ergibt sich aus der Aufgabenstellung der Zeitschrift mühelos eine Rechtfertigung des neuen Namens LATEINAMERIKA NACHRICHTEN (...) Die Änderung des Namens geschieht aber auch in der Hoffnung und Erwartung, dass neue Leser und neue Mitarbeiter angesprochen werden können.”
Dies ist gelungen. Immer wieder sind neue Leute in die Redaktion gekommen, um dort für kürzere oder längere Zeit mitzuarbeiten. Und diese Anziehungskraft der Lateinamerika Nachrichten ist bis heute erhalten geblieben.

 

Öffentlichkeitsarbeit in Deutschland

Mittlerweile war ich erster hauptamtlicher Geschäftsführer des Forschungs- und Dokumentationszentrums Chile/Lateinamerika (FDCL) und der Lateinamerika Nachrichten geworden. Wir besaßen damals die Räume einer großen Wohnung im ersten Stock am Savignyplatz 5. Eine Vielzahl von Arbeits- und Solidaritätsgruppen traf sich bei uns. In dieser Phase entstanden mehrere Bücher mit dem FDCL als Herausgeber: „Der Griff nach der Bombe – Das deutsch-argentinische Atomgeschäft”oder „Zeichen der Hoffnung und Gerechtigkeit”über die lateinamerikanische Befreiungstheologie.
In Zusammenarbeit mit der ersten politischen Galerie in West-Berlin, der „galerie 70”in der Schillerstraße in Charlottenburg, wurden zwei Ausstellungen konzipiert und mit großem Erfolg gezeigt: „Fußball und Folter”zur Fußball-WM in Argentinien 1978 und „Kinder des Elends”zum internationalen Jahr des Kindes 1979.
Und im Juni 1980 veranstalteten wir zwei Wochen lang die ersten „Lateinamerika Tage”und „Lateinamerika-Filmtage”in Berlin mit politischen und kulturellen Diskussionsveranstaltungen, Theateraufführungen, Ausstellungen, Lesungen, Gottesdiensten, einem Pressefest der Lateinamerika Nachrichten und einem großen Solidaritätskonzert in der Eissporthalle zu Gunsten der Menschenrechtskommission in El Salvador. Über 6.000 Menschen hörten Walter Mossmann, Bettina Wegner, Los Olimarenos und Isabel und Angel Parra.

 

Kombination FDCL und LN

Die Kombination von FDCL-Öffentlichkeitsarbeit und Lateinamerika Nachrichten hatte unserer Solidaritäts- und Publikationsarbeit Organisationsstruktur, Gewicht und Anerkennung weit über die Grenzen Berlins hinaus gegeben.
Nach zehn Jahren, in denen ich die Chile-Nachrichten bzw. Lateinamerika Nachrichten begleitet und mitgeprägt hatte, verließ ich 1983 die Geschäftsführung des FDCL, um Pfarrer der Luthergemeinde in Berlin-Spandau zu werden. Zuletzt organisierte ich noch eine Menschenrechtsdelegationsreise nach Argentinien im Dezember 1982 mit Dorothee Sölle, dem Strafrechtler Prof. Grünwald, Bischof Gerhard Heinze und Friedrich Wirnsberger. Es ging um die von der Militärdiktatur verhaftet-verschwundenen Menschen – in unserem Fall um die 72 deutschen oder deutsch-stämmigen Verschwundenen.
Im Anschluss an die Reise beantragten wir bei der Staatsanwaltschaft Bonn ein Strafverfahren gegen Außenminister Dietrich Genscher (FDP) wegen unterlassener Hilfeleistung.

Text: Peter Kranz
Ausgabe: Lateinamerika Nachrichten Nummer 348 - Juni 2003

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