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„Seit Lula hat die Gewalt gegen Landlose wieder zugenommen”. Interview mit Darci Frigo von der Menschenrechtsorganisation Terra de Direitos

 

Interview: Kurt Damm (FDCL)
Lateinamerika Nachrichten - LN, Ausgabe: Nummer 367 - Januar 2005


Auf Einladung des Lateinamerika-Referats der Heinrich Böll-Stiftung und des Forschungs- und Dokumentationszentrums Chile-Lateinamerika, FDCL, nahm Darci Frigo am Jahrestreffen des Netzwerks „Runder Tisch Brasilien”vom 26. bis 28.November in Gelnhausen teil. Darci Frigo ist Rechtsanwalt und hat mehr als 16 Jahre die christliche Landpastorale (Comissão Pastoral da Terra, CPT) im Bundesstaat Paraná vertreten. 2001 hat er für seine Arbeit den „Robert-F. Kennedy-Menschenrechts-Preis”erhalten. Er gründete 2002 die Nicht-Regierungsorganisation Terra de Direitos, wo er seitdem als leitender Direktor arbeitet. Seine besonderen Arbeitsschwerpunkte sind die Wirtschafts-, Sozial-, Kultur- und Umweltrechte (WSKU-Rechte), Agrarreform, Agro-Ökologie und basisnahe Anwaltsarbeit mit den sozialen Bewegungen.

Nach Angaben der CPT (Commissão Pastoral da Terra) war die Gewalt auf dem Land bis 2002 rückläufig, im letzten Jahr ist sie aber wieder deutlich angestiegen. Während es im Jahr 2002 zu insgesamt 40 Morden an LandarbeiterInnen und deren politischen VertreterInnen kam, waren es im Jahre 2003 insgesamt 71 Morde. Auch die Anzahl von Verletzten, Morddrohungen und die Vertreibung von LandarbeiterInnen und deren Familien hat deutlich zugenommen. Worin liegen deiner Meinung nach die Ursachen für diese Zunahme der Gewalt?

Im letzen Jahr der Amtszeit der Regierung Fernando Henrique Cardoso (FHC) unternahm die Regierung keine Anstrengungen mehr zur Ansiedlung von Landlosen. Auch auf Seiten der zivilgesellschaftlichen Organisationen übte man Zurückhaltung, da für die verbleibende Amtszeit des Präsidenten FHC keine substantiellen Veränderungen in Bezug auf die Agrarreform erwartet wurden. Zum einen gab es einen absoluten Stopp bei der Vergabe von Land, auf der anderen Seite war jede Aktion des Movimento popular durch erhöhte Gewaltbereitschaft der anderen Seite bedroht. Darüber hinaus zeichnete sich bereits ein Wahlsieg Lulas ab und die Bewegung (Movimento) wusste, dass durch weitere Aktionen wie Landbesetzungen oder große Demonstrationen die Presse und bürgerliche Kreise diese Aktionen sofort als kriminell abstempeln und politisch nutzen würden, um vor einem Wahlsieg Lulas zu warnen.
2003 nahm die Gewalt stark zu und erreichte die Zahlen der achtziger Jahre, als etwa 80 bis 100 Morde pro Jahr zu beklagen waren. Gegen Ende der neunziger Jahre sank diese Zahl dann auf zirka 40 Morde pro Jahr. Jetzt ist wieder ein Anstieg der Gewalttaten zu verzeichnen, wobei jedoch zu vermerken ist, dass keiner dieser Morde von Angehörigen der staatlichen Sicherheitsorgane, sondern ausschließlich von Pistoleiros (Mitglieder diverser Privatarmeen, die von Großgrundbesitzern finanziert werden) verübt wurde.

Wie kommt es zu dieser Entwicklung?

Einerseits können sich die Großgrundbesitzer nicht mehr auf die Hilfe der Bundesregierung verlassen. Andererseits rechnen der MST und andere Organisationen, die sich für eine Agrarreform einsetzen, fest mit der Unterstützung der Lula-Regierung. Daher gingen viele Großgrundbesitzer dazu über, sich zu bewaffnen um die Agrarreform zu verhindern und so erklärt sich die starke Zunahme der Gewalt auf dem Land. Dazu gehört natürlich auch, dass die Landlosen nach einem Jahr „Waffenstillstand”ihre Mobilisierungen wieder aufnahmen und von Lula die Umsetzung der Agrarreform forderten. Es gab Landbesetzungen und Ende 2003 lebten 200.000 Familien in Camps auf besetztem Land. 2004 ist die Zahl der Besetzungen weiter angestiegen und der Druck des Movimento auf die Regierung Lula hat sich weiter erhöht.
Keine der Zusagen für Ansiedlungen wurde in den letzten Jahren erfüllt. 2002 haben nur 36.000 Familien von geplanten 70.000 Land bekommen. 2004 wurden 70.000 bis 80.000 Familien angesiedelt, obwohl 215.000 Ansiedlungen versprochen waren. Obendrein bleiben diese Zahlen weit hinter den Planungen zurück, da in vielen Fällen bereits bestehende Besetzungen lediglich legalisiert werden und keine Neuansiedlung von Familien durchgeführt werden. Von den 150.000 Familien, die derzeit in Besetzungscamps leben, werden höchstens 50.0000 angesiedelt werden können.

Nach Aussagen von MitarbeiterInnen von Menschenrechtsorganisationen haben sich seit dem Amtsantritt von Präsident Lula die Drohungen und Morde auf die politische Führung der Landlosenbewegung konzentriert. Kannst Du solche Aussagen bestätigen?

Nicht nur die Anzahl von Morden, sondern auch Morddrohungen gegen WortführerInnen der sozialen Bewegung, offizielle Anklagen und Verhöre durch die Polizeibehörden haben zugenommen. Es handelt sich um den Versuch, diese Leute zu demoralisieren. Die Polizei vor Ort kollaboriert stark mit den Großgrundbesitzern. Sie sind oft der Meinung, dass die Großgrundbesitzer das Recht hätten, gewalttätig gegen die Landlosen vorzugehen; es besteht eine ideologische Nähe zwischen Großgrundbesitzern und Polizei, die dazu führt, dass die sozialen AktivistInnen von der Polizei bedroht werden. Diese selektive Gewalt gibt es schon seit einigen Jahren. Dadurch soll die Stärkung der Position der sozialen FührerInnen durch die Regierung Lula konterkariert werden.

Auf die Ermordung von fünf Landarbeitern in Felisburgo, Vale do Jequitinhona, Ende November reagierte die brasilianische Presse vor allem mit Vorwürfen an die Adresse von Landwirtschaftsminister Miguel Rossetto und dem Präsidenten der INCRA, Rolf Hackbart. Durch ihre Nähe zum MST würden sie die Frage der Agrarreform ideologisieren und damit der Gewalt Vorschub leisten. UDR und Großgrundbesitzer stellen einmal mehr ihre Gewalt gegen LandarbeiterInnen und KleinbäuerInnen als legitime Verteidigung ihres Besitzes dar.

Zuerst einige Bemerkungen über die Rolle der Medien in der brasilianischen Gesellschaft. In Brasilien sind es lediglich acht bis neun Familien, die die großen Fernsehgesellschaften, Zeitungen und Radiostationen kontrollieren. Dies bedeutet ein Monopol über die Massenmedien. Und diese Massenmedien nutzen das „Modell Agrobusiness”als Motto für ihre ideologischen Ziele, um jedweden Vorschlag für eine veränderte Agrarpolitik, die gleichzeitig ein anderes ökonomisches Modell der brasilianischen Gesellschaft beinhalten würde, zu bekämpfen.
Die Berichterstattung über das Massaker in Minas Gerais ist schon beeindruckend. Die Folha de São Paulo schrieb, dass die Verantwortung für diese Morde beim MST lägen! Weil die Regierung die Aktionen des MST nicht verbot, sei letztlich der MST für die Morde verantwortlich zu machen. Dies ist eine völlige Verdrehung der Fakten. Es handelt sich hierbei nicht mehr nur um eine Frage der ideologischen Überzeugung, sondern um Aufwiegelung der Bevölkerung, das Säen von Hass gegen BefürworterInnen einer Agrarreform und speziell gegen den MST.
Die Massenmedien stellen seit Antritt der Regierung Lula alle Überlegungen für eine Agrarreform in Frage, sie hinterfragen die Besetzung von regionalen INCRA-Stellen mit VertreterInnen aus der Regierungspartei, da diese den sozialen Bewegung für eine Agrarreform im Allgemeinen und dem MST im Besonderen zu nahe stehen würden. Dies ist die Untergrabung des demokratischen Wählerwillens, damit wird lediglich die eigentliche Gewalt, die vom Agrobusiness ausgeht, verschleiert. Das Vorgehen der Massenmedien offenbart den Versuch, die permanente strukturelle Gewalt zu verschleiern und die Akteure des Movimento, die Menschen, die das bestehende Entwicklungsmodell hinterfragen, die die soziale Ungerechtigkeiten anklagen, als die eigentlichen Aggressoren darzustellen.

Die Besetzung von nicht für die Produktion genutztem Land durch den MST erzeugt sehr viel mehr Aufmerksamkeit in Brasilien, als die Besetzung von staatseigenem Land durch Großgrundbesitzer. Nicht immer wird dieses Land auch produktiv genutzt. Warum greift die Regierung bei der Ansiedlung von landlosen Bauern nicht stärker auf diese Gebiete zurück?

Die Rückgewinnung von illegal erworbenem Land der Großgrundbesitzer ist ein zentrales Element der historischen Forderung der sozialen Bewegung nach einer Agrarreform. Es gibt riesige Flächen, die der öffentlichen Hand gehören, die auf illegale Weise von Latifundisten genutzt werden, und der Staat unternimmt überhaupt keine Anstrengungen, die Kontrolle über diese Ländereien auszuüben. Sei es, um Menschen dort anzusiedeln, sei es, um Naturschutzgebiete einzurichten, Waldflächen zu schützen oder für die Sammelwirtschaft auszuweisen, wie es an vielen Orten in Amazonien gefordert wird. Die Wiederaufnahme der Kontrolle über diese Ländereien könnte die Zerstörung der Wälder, die Vertreibung der indigenen und traditionellen Bevölkerung verhindern. Über die hier ausgeübte Gewalt wird in der brasilianischen Gesellschaft geschwiegen. Nur in sehr wenigen Fällen berichten die Massenmedien über diese Art krimineller Machenschaften, da diese oft in Händen der gesellschaftlichen Sektoren sind, die keinerlei Interesse an einer Agrarreform haben.
Alle Behörden, die sich mit der Agrarreform befassen, sind sich einig, dass Land, auf dem Sklavenarbeit erzwungen wird, zu enteignen ist. Auch die Umweltgesetzgebung sollte zur Umsetzung der Agrarreform herangezogen werden. Des weiteren brauchen wir eine Obergrenze von Landbesitz in Brasilien.
Ein dementsprechendes Gesetz liegt seit schon seit 2002 auf Eis, da Teile der Gesellschaft befürchten, durch die Regierung Lula würde Landbesitz per se in Frage gestellt. Vor den Wahlen gab es eine Intervention der Parteiführung der PT, da man davon ausging, diese Diskussion würde die Wahlaussichten Lulas beeinträchtigen. Aber es ist nach wie vor die Forderung der Zivilgesellschaft, den Landbesitz, je nach naturräumlichen Gegebenheiten, zu begrenzen.

Weltbank und brasilianische Regierung haben mit „Cédula da Terra”und „Créditio Fundiário”Programme aufgelegt, die es ermöglichen sollen, durch die Aufnahme von zinsgünstigen Krediten Land auf dem freien Markt zu erwerben, um dann später die Kredite durch ihre Produktion wieder zurückzahlen zu können. Liegt in diesen Programmen eine Chance zur Lösung der Landfrage in Brasilien?

Die Weltbank verteidigt eine marktgestützte Agrarreform, damit schwächt sie die konstitutionelle Agrarreform, die von der INCRA durch Enteignung durchgeführt werden soll.
Bisher ist diese Agrarreform nur in Teilen gesetzlich festgelegt, da man unterschiedliche Instrumente für die Enteignung benötigt und diese noch nicht in ausreichendem Maße festgelegt wurden. Die marktgestützte Agrarreform betrifft nicht den Großgrundbesitz, sie berührt lediglich den Klein- und den mittelgroßen Besitz. Sie bevorteilt vor allem das Geschäft mit dem Kauf und Verkauf von Land. Bei dem zur Verfügung gestellten Land handelt es sich meist weniger um fruchtbares Land, und die Bauern, die auf diese Weise Land erwerben, bleiben letztlich auf einer unbezahlbaren Bankschuld sitzen. Dies macht die Programme völlig undurchführbar.15 bis 20 Millionen Menschen in Brasilien sind auf die Durchführung einer Agrarreform angewiesen. Damit soll den Menschen Arbeit und ein Wohnort verschafft werden.
So können auch Zugang zu Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen, Freizeitmöglichkeiten für die Jugendlichen, eine Diversifizierung des Anbaus landwirtschaftlicher Produkte und eine Ansiedlung kleiner und mittelständischer Unternehmen der verarbeitenden Industrie, ermöglicht werden. Nach wie vor ist die Agrarreform ein wichtiges Instrument für die Demokratisierung der brasilianischen Gesellschaft.

Interview: Kurt Damm (FDCL)
Lateinamerika Nachrichten - LN, Ausgabe: Nummer 367 - Januar 2005