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Strafvollzug und Straffreiheit. Das Gefängnissystem und die Polizei in Brasilien

 

Text: Christian Russau (FDCL)
Lateinamerika Nachrichten – LN, Ausgabe: Nummer 263 - Mai 1996

 

Nach Schätzungen des "Interamerikanischen Instituts für Menschenrechte" (IIDH) befinden sich zur Zeit eine Million Häftlinge in den überfüllten Gefängnissen Lateinamerikas - fast ein Siebtel von ihnen in Brasilien. Es sind die vom Wohlstand Ausgeschlossenen, die in Gefängnissen von der Gesellschaft weggeschlossen werden. Diesem Strafvollzugsystem steht die Straffreiheit der Militärpolizei gegenüber, die immer wieder mit Menschenrechtsverletzungen Schlagzeilen macht, aber durch die korporativistische Militärjustiz geschützt wird.

In Brasilien kam es Ende März im Bundesstaat Goiás zu einer Gefangenenmeuterei, bei der die rebellierenden Häftlinge 18 Geiseln in ihre Gewalt brachten, darunter den Direktor des Gefängnisses und mehrere Mitglieder einer Kommission von Richtern und Anwälten, die zur Begutachtung der dortigen Zustände ins Gefängnis gekommen waren. Für nahezu zwei Wochen übernahmen die revoltierenden Häftlinge das Centro Penitenciário Agroindustrial de Goiás (Cepaigo) in Selbstverwaltung, während die Polizei das Terrain weiträumig umstellt hielt.

Von Meutereien, Medien und Maconha

Die Häftlinge forderten Drogen, Waffen, Geld und Fluchtautos, in denen sie dann mit einigen Geiseln flohen. Während der live im Fernsehen übertragenen Verfolgungsjagd kam es zu mehreren Schußwechseln, bei denen ein Häftling und eine Passantin getötet wurden. Letztlich wurden die Flüchtenden - unter Beisein der anwesenden Reporterschar - von der Polizei gestellt.
Das brasilianische Fernsehen machte aus der Gefängnisrevolte eine allabendlich, pünktlich zu den Nachrichten fortgesetzte reality-show als telenovela. Der TV-Star wurde Leonardo Pareja, ein zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilter Gefangener, der während der Revolte Sprecher der Häftlinge war und nach Angaben der Geiseln entscheidend dazu beigetragen hatte, daß die Revolte "verhältnismäßig unblutig" verlief. Pareja war schon im letzten Jahr ein Medienereignis, als er ein dreizehnjähriges Mädchen entführt hatte und mit ihr durch drei Bundesstaaten vor der Polizei floh und der Presse bereitwillig Interviews gab. Nun wurde er zum Hauptdarsteller des Abendprogramms bei TV-Globo: Das in den Medien alles beherrschende Bild der Gefängnismeuterei zeigte Pareja oben auf dem Dach des Gefängnisses sitzend, auf der Gitarre spielend und dabei genüßlich maconha-rauchend, vor den Augen der über Satellit dem Spektakel beiwohnenden brasilianischen Öffentlichkeit.
Durch die lässigen Allüren des in der Öffentlichkeit zum bom bandido avancierten Pareja und dessen Publicity fühlte sich die Wochenzeitschrift Veja derart provoziert, daß sie in einer Titelstory die Medienwirksamkeit dieses "Banditen" und das Verhalten der Medien anprangerte. Bedauernswert fand die Veja es außerdem, daß es in der brasilianischen Polizei nicht genügend für derartige Ernstfälle ausgebildete Spezialisten gebe, wie zum Beispiel in der BRD die GSG 9 ... Solche gedanklichen Auswüchse sind symptomatisch für eine Berichterstattung über eine Häftlingsmeuterei, bei der mit keinem Wort über ihre Ursachen reflektiert wird. Die Zustände in den brasilianischen Gefängnissen als Ursachen der Meuterei fanden in der Veja keine Erwähnung. Der soziale Sprengstoff in den brasilianischen Knästen geriet dabei letztlich vollkommen aus dem Blickwinkel des öffentlichen Interesses: Es scheint, daß das Rauchen von Maconha einen größeren Skandal darstellt als Menschenrechtsverletzungen.

"Müllkippen für Gefangene"

Das Gefängnis Cepaigo ist mit seinen 702 Gefangenen um 100 Prozent überbelegt, wie die meisten Haftanstalten Brasiliens, in denen sich Schätzungen zufolge rund 130.000 Häftlinge 60.000 Plätze teilen müssen. Im April 1989 waren in Brasilien nach offiziellen Angaben "nur" 90.691 Personen inhaftiert, die eigentliche Kapazität der Haftanstalten lag damals bei 43.338 Personen. Diese unzumutbaren Bedingungen sind einer der Gründe für die unzähligen Gefängnisrevolten. Statistisch kommt es dreimal monatlich zu Meutereien in Brasiliens Gefängnissen. 1992 hatten revoltierende Häftlinge in einem Gefängnis in Minas Gerais stündlich russisches Roulette "gespielt", um auszulosen, wer von ihnen erschossen werden sollte, damit auf ihre Forderungen eingegangen werde.
Selbst ein brasilianischer Justizminister der letzten Militärregierung unter João Figueiredo gestand 1980 ein, die Situation in den brasilianischen Gefängnissen sei "eine der dramatischsten in der Welt". Sie seien "Müllkippen für Gefangene, wo der Einzelne den schlimmsten Erniedrigungen unterworfen wird". In einem Bericht über Folter und außergerichtliche Hinrichtungen in Brasilien, den amnesty international 1990 veröffentlicht hat, wird die langjährige Militärdiktatur für die Verwahrlosung der Gefängnisse verantwortlich gemacht.
Um die soziale Lage in den Gefängnissen zu entschärfen und die angesichts der unzumutbaren Zustände in den Knästen revoltierenden Häftlinge zu besänftigen, erließ Präsident Cardoso als Reaktion auf diese längste Gefängnisrevolte Brasiliens am 11. April ein Dekret, nach dem nicht vorbestrafte Häftlinge, die zu bis zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt sind, bei guter Führung vorzeitig, frühestens aber nach einem Sechstel ihrer Haftzeit, entlassen werden können. Dies könnte rund 13.000 Gefangenen zugute kommen. Generell ausgenommen sind hiervon Häftlinge, die wegen Mordes, Folter, Vergewaltigung, Korruption oder ähnlicher Verbrechen einsitzen.
Die Haftanstalten werden in ganz Brasilien bundesstaatlich geführt. Die Gefängnisse unterstehen direkt dem jeweiligen Justizministerium, einzige Ausnahme ist der Bundestaat São Paulo, wo 1991 der Gouverneur Fleury die Gefängnisse dem Ministerium für Öffentliche Sicherheit unterstellte. Somit unterstehen Polizei und Haftanstalten einem einzigen Ministerium, ein Zustand, den amnesty international in einem Bericht von 1993 über das Gefängnismassaker von Carandiru, São Paulo, für äußerst bedenklich hält.

Massaker in Block 9

Carandiru, so heißt der Stadtteil von Sâo Paulo, in dem sich die Haftanstalt Flamínio Fávero befindet, die allgemein nur Carandiru genannt wird. Diese ist mit ihren 7200 Insassen das größte Gefängnis Südamerikas. Da es zu Beginn der 50er Jahre als Untersuchungsgefängnis für nur 3250 Häftlinge errichtet wurde, ist es heutzutage, wie nahezu alle brasilianischen Gefängnisse, zum einen weit überbelegt, zum anderen werden Untersuchungshäftlinge mit schon rechtskräftig verurteilten Personen gesetzwidrig in gemischten Zellen untergebracht. Diese gemischte Unterbringung wurde 1984 mit dem Inkrafttreten des Strafvollzugsgesetzes (Lei de Execução Penal) gesetzlich verboten. Doch die Praxis widerspricht dem. Carandiru hält noch einen anderen Rekord aller brasilianischen Haftanstalten: Dort wurden im Block 9 (dem Pavilhão 9) am 2./3. Oktober 1992 nach einer Meuterei 111 Häftlinge von der Militärpolizei erschossen, weitere 110 verletzt. Amnesty international kam in einem Bericht von 1993 zu dem Schluß, daß die Polizei die Gefangenen "kaltblütig ermordet" hatte.
Hauptverantwortlich für das Massaker war Coronel Ubiratan Guimarães, der noch 1994 - allerdings erfolglos - bei den Stadtverordnetenwahlen in São Paulo kandidierte. Ubiratan ist Oberst der ROTA, einer berüchtigten Einheit der Polizei São Paulos, deren zweifelhafter Ruf in der enorm hohen Zahl von erschossenen Personen gründet. Ein Großteil der Polizisten, die am Massaker in Carandiru beteiligt waren, sind Mitglied der ROTA.
Im März 1993 wurden Gerichtsverfahren gegen Coronel Ubiratan und 119 weitere am Massaker beteiligte Polizisten von der Militärjustiz eingeleitet. Diese Justiça Militar ist für die im Dienst begangenen Delikte von Militärpolizisten zuständig. Jede Richterkommision dieser Militärjustiz setzt sich aus einem zivilen Richter und drei Militärangehörigen zusammen, die mindestens Offiziere sein müssen, aber über keine höhere juristische Ausbildung zu verfügen brauchen. Anfang 1996 erklärte sich die Justiça Militar als Reaktion auf öffentlichen Druck für nicht zuständig und übertrug das Verfahren der zivilen Gerichtsbarkeit. Ein Urteil steht nun, dreieinhalb Jahre nach dem Massaker, noch immer aus, aber zumindest handelt es sich bei der Übertragung der Jurisdiktion von der Militärjustiz auf zivile Gerichte um eine Rarität in der Geschichte der brasilianischen Militärjustiz.

Korporativistische Justiz

Elói Pietá, Rechtsanwalt, Abgeordneter des Bundesstaats São Paulo und Autor eines Buchs über das Gefängnismassaker in Carandiru, spricht deshalb von einer "korporativistischen Justiz", und unabhängige Gruppen fordern folgerichtig die Abschaffung der ausschließlichen Zuständigkeit der Militärjustiz für Polizisten, die nach Artikel 124 und Art. 125 §4 der brasilianischen Verfassung von 1988 für alle crimes militares zuständig ist. Somit hat sie für alle von Militärangehörigen (also auch von Polizisten) im Dienst begangenen Straftaten alleinige Urteilskompetenz.
Begehen Militärangehörige Menschenrechtsverletzungen außerhalb ihres Dienstes, so waren und sind - nach dem Gesetz - zivile Gerichte dafür zuständig. Dies ist der Grund dafür, daß die Militärpolizisten, die im August 1993 das Massaker an 21 Menschen in der Favela Vigário Geral, einem Vorort von Rio, verübt hatten, durch zivile Gerichte verurteilt wurden. Diese von der Verfassung vorgeschriebene Bestimmung wird aber in der Praxis oft hintergangen, da die kriminologischen Untersuchungen des jeweiligen Falles im Rahmen des sogenannten Inquérito Policial Militar (IPM) von der Militärpolizei selbst durchgeführt werden.
Um diese Praxis der Straffreiheit zu verhindern, liegt dem Kongreß in Brasília nun eine Gesetzesänderung vor, nach der die Rechtsprechung für durch Militärpolizisten im Dienst und außerhalb der Kaserne begangene Verbrechen der zivilen Gerichtsbarkeit übertragen würde. Doch bliebe auch nach dem neuen Gesetz die kriminaltechnische Untersuchung der Vorfälle in den Händen der Militärpolizei und nicht der Polícia Civil, wie einige der Initiatoren des Reformprojekts es erhofften, so daß weiterhin die Gefahr der Manipulierung von Indizien im Rahmen dieser krimaltechnischen Untersuchung durch die Militärpolizei besteht.
Wenn der Kongreß der Gesetzesänderung zustimmen sollte, bleibt abzuwarten, ob die Verlagerung der Zuständigkeit von der Militärjustiz zu zivilen Gerichten die Tradition der Straffreiheit bricht. Noch agiert vor allem die Militärpolizei in einer Art und Weise, die an Todesschwadrone erinnert. So sticht vor allem die Militärpolizei São Paulos mit erschreckenden Bilanzen hervor: Während 1991 die Polizei von New York City 27 Personen erschoß, tötete die Militärpolizei São Paulos 1.140 Personen, was einem Viertel aller gewaltsamen Tode in diesem Zeitraum entspricht. 1991 und 1992 wurde durchschnittlich alle sieben Stunden ein Mensch durch die Polizei in São Paulo getötet. Nach Zahlen des Journalisten Caco Barcellos tötete diese Polizei von 1970 bis 1990 nahezu 8.000 Personen, von denen die Mehrzahl arm, schwarz, Migranten aus dem Nordosten Brasiliens, um 19 Jahre alt war und über ein monatliches Durchschnittseinkommen von ungefähr 60 US-Dollar verfügte.
Diese Angaben ähneln dem soziographischen Durchschnitt der Häftlinge in Brasiliens Gefängnissen. Nach Zahlen von ISER, einer kirchennahen Nichtregierungsorganisation, waren 1988 68,6 Prozent der Häftlinge im Bundesstaat Rio de Janeiro Schwarze, während sie nur 40 Prozent der Bevölkerung von Rio ausmachen. Ein Viertel der Gefangenen war jünger als 25 Jahre, ein Drittel 25 bis 31 Jahre alt. In den Gefängnissen waren 97 Prozent der Insassen Männer, drei Fünftel von ihnen hatten keine oder nur wenig Schulbildung erhalten, die Hälfte mußte vorher ohne die gesetzlich vorgeschriebene Sozialversicherungskarte, der carteira assinada, arbeiten, und 46 Prozent der Inhaftierten waren erstmalig zu einer Haftstrafe verurteilt.
Die Opfer von Polizeigewalt sind die Gleichen wie diejenigen, die von der Gesellschaft ausgeschlossen werden, und das auf mehreren Ebenen: Die Marginalisierten in peripheren Konkurrenzgesellschaften werden von der Teilhabe an ökonomischen Prozessen ausgeschlossen, sie werden wegen ihrer Armut als Bedrohung der Ordnung angesehen, die es zu schützen gelte. In der Vorstellungswelt der besitzstandswahrenden Mittelklasse werden die Begriffe "arm", "schwarz" und "gefährlich" als identisch gleichgesetzt. Die Segregation der Armen findet im sozialen Ausschluß ihren kruden Ausdruck. Die soziale Frage in der brasilianischen Gesellschaft wird weiterhin behandelt nach dem miesen Bonmot eines ehemaligen Präsidenten Brasiliens, Washington Luis, der 1926 verlautbaren ließ, die soziale Frage wäre nur eine Frage der Polizei. Polizei und Sicherheitskräfte tragen ihren Teil zum Schutz dieser ungerechten Ordnung bei, indem sie die Ausgeschlossenen aus den Stadtteilen der Wohlhabenderen vertreibt, in überfüllten Gefängnissen von der Gesellschaft abschließt oder sie erschießt.

Literatur:
amnesty international: Brasilien. Jenseits des Gesetzes, Köln 1990.
Barcellos, Caco: Mord in São Paulo. Den Todesschwadronen auf der Spur, Göttingen 1994.
Campos Coelho, Edmundo /ISER: Estudo Descritivo do Censo Penitenciário do Rio de Janeiro 1988, Rio de Janeiro 1988.
FDCL/amnesty international: Carandiru - das Gefängnismassaker in São Paulo, Berlin 1995.

 

Text: Christian Russau (FDCL)
Lateinamerika Nachrichten – LN, Ausgabe: Nummer 263 - Mai 1996