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Clowns wechseln – der Zirkus geht weiter. Das Kabinett der neuen Präsidentin lässt wenig Raum für Überraschungen

 

Text: Jan Stehle (FDCL)
Lateinamerika Nachrichten – LN, Ausgabe: Nummer 382 - April 2006


Seit dem 11.März hat Chile eine neue Präsidentin: Der Wahlsieg der Sozialistin Michelle Bachelet im Januar wurde international gefeiert. Doch auch wenn nun eine Frau und Exilantin an der Spitze des Landes steht, wird sich an der neoliberalen Ausrichtung der Wirtschaftspolitik kaum etwas ändern – und für außerparlamentarische Linke und soziale Bewegungen könnten ob ihres intergrativen Diskurses schwere Zeiten anbrechen.

Die große Neuerung ist geschlechterpolitischer Natur: Zehn der zwanzig MinisterInnen, die die im Januar gewählte Präsidentin Michelle Bachelet am 30. Januar vorstellte, sind Frauen. Auch auf Ebene der VizeministerInnen wird eine paritätische Quotierung angewandt – und die Präsidentin kündigte an, dass eine solche Regelung auch für den gesamten öffentlichen Sektor eingeführt werden soll.
Die vierte Legislaturperiode des Mitte-Links-Bündnisses Concertación wird von einer geschiedenen Frau angeführt, die nicht an Gott glaubt und deren Vater in den Gefängnissen der Militärdiktatur starb. Dennoch steht Bachelet für die Kontinuität des wirtschaftsliberalen Modells, das vor Wachstum strotzt und an sozialer Ungleichheit krankt – auch in ihrem Kabinett wird dies deutlich.

Kabinett der Technokraten

Zwei neue Ministerien werden von der Regierung Bachelet geschaffen werden: Eines für Umwelt und eines für öffentliche Sicherheit. Die Verteilung der Ministerien entspricht in etwa dem Stimmenanteil der jeweiligen Partei innerhalb der Concertación – 7 Christdemokraten (PDC), 5 Partido por la Democracia (PPD), 4 Sozialisten (PS), 1 Radikale Sozialdemokratische Partei (PRSD) und 3 Parteilose.
Aus der bisherigen Regierung wurde keines der neuen Kabinettsmitglieder übernommen. Die meisten sind in der Öffentlichkeit bislang relativ unbekannte „Technokraten”aus der zweiten Reihe ihrer jeweiligen Partei. Eine Ausnahme bilden die Schlüsselministerien für Inneres (Andrés Zaldivar) und Äußeres (Alejandro Foxley), beides Christdemokraten. Zaldivar war bereits unter der Regierung Frei Montalva 1964-70 Finanz- und Wirtschaftsminister. Als Senatspräsident unternahm er 1998 eine Reise nach Europa, um Pinochets Freilassung und Rückkehr nach Chile zu erwirken. Foxley war während der ersten Koalitionsregierung der Concertación Anfang der 1990er Finanzminister – und wird von Teilen seiner Partei auch als zukünftiger Präsidentschaftskandidat der Christdemokraten gehandelt.
Der neue Finanzminister Andrés Velasco (parteilos) hat seinen Doktortitel in Harvard erworben, ist ein Schüler Foxleys und gilt als äusserst wirtschaftsliberal. Er ist Präsident der Fundación Expansiva, einem akademischen ‚think tank’ der Concertación. Der Sohn des scheidenden Präsidenten, Ricardo Lagos Weber (PPD), wird neuer Regierungssprecher.
Nach Michelle Bachelet, die dieses Amt unter dem bisherigen Präsidenten Lagos innehatte, wird mit Vivianne Blanlot zum zweiten Mal in Chile eine Frau Verteidigungsministerin. Mitglieder der Sozialistischen Partei besetzen die „sozialen”Ministerien Arbeit und Gesundheit.

Pläne für die ersten 100 Tage

Die Koalition kann mit guten Voraussetzungen für ihre Arbeit rechnen: Zum ersten Mail in ihrer 16-jährigen Regierungszeit besitzt sie absolute Mehrheiten in beiden Parlamentskammern. Für Verfassungsänderungen wie die angestrebte Umwandlung des binominalen in ein proportionales Wahlsystem wird die Concertación jedoch weiterhin auf Stimmen aus dem rechten Parteienbündnis Alianza por Chile angewiesen sein. Das binominale Wahlsystem garantierte bislang der Rechten eine überproportionale Anzahl an Abgeordneten, wohingegen kleinere Parteien (wie die Kommunistische Partei) keinerlei Möglichkeit hatten, ins Parlament einzuziehen.
Neben dieser lange angekündigten Reform des Wahlrechts hat sich Bachelet die Umsetzung weiterer Punkte für die ersten 100 Tage vorgenommen: unter anderem das allgemeine Recht auf eine geringe Sozialrente (bislang gab es für diese staatliche Unterstützung ein Kontingent und eine Warteliste) und die Gründung einer Kommission zur Rentenreform, die schrittweise Abschaffung der Wehrpflicht und Einführung einer Berufsarmee, 1500 zusätzliche PolizistInnen pro Jahr auf Chiles Straßen und die automatische Eintragung in die Wahlregister bei Vollendung des 18. Lebensjahrs – zur Zeit sind knapp 75% der JungwählerInnen zwischen 18-29 Jahren nicht in die Wahlregister eingetragen.

Schwierige Zeiten für die Linke

Mehr noch als ihr Vorgänger Lagos vertritt Bachelet eine „Politik der Umarmung”: Es ist ihre erklärte Strategie, auf linke Gruppierungen, soziale Bewegungen und Minderheiten offensiv zu zugehen und diese in ein „Gemeinschaftsprojekt aller Chilenen”zu integrieren. Die „Wiederbegegnung aller”
(„el reencuentro”) steht im Vordergrund ihres politischen Diskurses.
Das linke Wahlbündnis Juntos Podemos hat sich gespalten, als es um die Frage ging, ob es Michelle Bachelet im zweiten Wahlgang unterstützen sollte: Die Kommunistische Partei (PC) rief nach einem Treffen mit der Kandidatin ihre WählerInnen dazu auf, für Bachelet zu stimmen. Der Präsidentschaftskandidat des Wahlbündnisses hingegen, Thomas Hirsch von der Humanistischen Partei, plädierte aus Protest gegen die neoliberale Politik der Concertación dafür, ungültig zu wählen.
Linke Gruppen sind in ihrer Analyse darin gespalten, ob die Umarmungsstrategie Bachelets mehr Spielraum für realpolitische Änderungen eröffnet oder lediglich kooptieren und integrieren soll – und so den Fortbestand des wirtschaftsliberalen „chilenischen Modells”sichern.

Meer und Freihandel

Als Politik der Umarmung kann auch die chilenische Außenpolitik betrachtet werden. Zur groß inszenierten Amtseinführung Bachelets am 11.März war eine beeindruckende Liste hoher Staatsgäste angereist: von Luís Inácio Lula da Silva und Néstor Kirchner über Hugo Chavez, Evo Morales und den neuen haitianischen Präsidenten Renée Préval bis hin zur US-amerikanischen Außenministerin Condoleezza Rice.
Am Tag zuvor hatten linke Parteien und Gruppen in Santiago de Chile Evo Morales einen großen Empfang bereitet: knapp 10 000 Menschen begrüßten den bolivianischen Präsidenten mit „¡mar para bolivia!”(Meer für Bolivien)–Rufen. Zum ersten mal scheint Chile bereit, über die historische Forderung Boliviens nach einem Zugang zum Meer zu sprechen.
Doch ansonsten grenzt sich Bachelet von den linken Regierungen der Nachbarländer deutlich ab: anders als viele ihrer KollegInnen vertritt sie keine Politik der stärkeren regionalen Integration, sondern setzt die traditionell USA-freundliche Linie der Concertación fort. So unterstützt sie weiterhin stark den US-Plan für eine gesamtamerikanische Freihandelszone (ALCA), der sowohl in der chilenischen Bevölkerung als auch vielen Nachbarländern höchst umstritten ist.
Nach dem Abschluß von bilateralen Freihandelsverträgen mit den USA und der EU verhandelt Chile gegenwärtig mit China über einen solchen – stets zuallererst den Fortbestand der durch Rohstoffausfuhren geprägten Exportökonomie im Blick.

Schöner Schein...

Wer heute am Flughafen von Santiago ankommt, kann nur staunen. Auf einer neuen achtspurigen Autobahn geht es in die Stadt, die Mautgebühr wird automatisch erfasst, Palmen und kurzgeschnittener englischer Rasen säumen den Straßenrand. Ein neuer Tunnel ermöglicht das Umfahren der Staus auf der Hauptstraße Alameda, allenthalben sprießen neue Immobilienprojekte – im Innenstadtbereich meist Appartmenthochhäuser mit Portier und Wellnessanlage.
Die Armut, die in den Vororten und in weiten Teilen der Gesellschaft herrscht, bleibt hier außen vor. Die Wirtschaft wächst seit Jahren um durchschnittlich 5%, die Inflation ist unter Kontrolle und der Kupferpreis so hoch wie schon lange nicht. Zumindest die wirtschaftliche Lage wäre gegeben für die dringend erforderlichen soziale Veränderungen in einem Land, das inzwischen auf Platz zwei der ungleichsten Einkommensverteilungen weltweit liegt.

...und harte Interessen

Doch die Interessengruppen für die Fortsetzung der bisherigen Politik sind stark, und die Privatwirtschaft hat in einem Land mit einer Staatsquote von 22% (weniger als die Hälfte der deutschen) einen immensen Einfluss. Von Bildung über Gesundheit und Renten werden immer mehr Bereiche des öffentlichen Lebens über den Markt geregelt. Die privaten Rentenfonds wehren sich gegen Reformen genauso wie die privaten Krankenversicherungen.
Und das chilenische Heer, das nach wie vor auch wirtschaftlich eine bedeutsame Rolle spielt, ist auf Einkaufstour: derzeit interessiert es sich für den Kauf von 200 deutschen Leopard-Panzern – zu finanzieren aus den ihm zustehenden 10% der Erlöse aus dem Kupferverkauf des Staatsunternehmens CODELCO.

Lob für „Chiles rechte Linke”

Bachelet hat vor allem im Sozialbereich Taten angekündigt – dass sie tatsächlich weitreichende Änderungen anstoßen könnte, wird zumindest in der internationalen Presse nicht erwartet. Unter der Überschrift „Chiles rechte Linke”erklärt ein Investmentbanker auf der Internetseite der FAZ Bachelets Wahlsieg sei „kein Grund zur Beunruhigung”, im Gegenteil. Und auch die Zeit lobt Bachelet als „Links, aber vernünftig”.
Bei soviel stiller und offener Sympathien aus dem konservativen und wirtschaftsliberalen Lager liegt die Vermutung nahe, dass der bekundete Modernisierungs- und Reformeifer der Regierung Bachelet vor allem an der Fassade des „chilenischen Modells”stattfinden wird.
Oder, wie es ein chilenisches Sprichwort ausdrückt: „Cambian los payasos, pero el circo sigue”– die Clowns wechseln, aber der Zirkus geht weiter.



Text: Jan Stehle (FDCL)
Lateinamerika Nachrichten – LN, Ausgabe: Nummer 382 - April 2006