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Ein Kontinent in Bewegung. Migration und Gender in Lateinamerika

Ein Reader des FDCL.

Berlin, April 2006.

 

 

Inhalt:

Lateinamerika: Emigration und Binnenmigration - Geschichte und Ursachen

Migration und Geschlecht in Lateinamerika - Eine Einführung

Die Entstehung neuer Identitäten - Wandel der Geschlechterbeziehungen

Lateinamerikanische MigrantInnen in Deutschland - Prekäre Arbeitsverhältnisse und Illegalität

Latinas in der Prostitution

Statistiken

Literatur

Links

Impressum

Einleitung

Die Geschichte der Menschheit setzt sich zu 90 % aus Wanderungsprozessen und nur zu 10% aus sesshaften Zuständen zusammen.
Seit der Bildung politischer Einheiten und Nationalstaaten wurde die Bewegung jedes sozialen Subjektes begrenzt und auf diese Weise auch die Migration geregelt, kontrolliert, motiviert, verhindert oder erschwert. In den letzten Jahrzehnten, in denen der Prozess der Globalisierung stark zugenommen hat und die Märkte zunehmend liberalisiert wurden, übte das Phänomen der Migration immer größeren Einfluss auf gesellschaftliche Prozesse aus, da breitere Bevölkerungsschichten die Möglichkeit zu räumlicher Mobilität erlangten. Paradoxerweise geht parallel zu diesem Phänomen ein Prozess der Abgrenzung, Abschottung und Grenzziehung der Industrieländer einher.

Aber was treibt ein Individuum oder eine Gemeinschaft dazu, sich in einem fremden sozialen Raum neu zu orientieren? Sich von einem vertrauten in einen unbekannten Raum zu bewegen, oftmals ohne die gesellschaftlichen Codes, die Sprache, die Normen und Regeln zu verstehen? Wieso müssen oder warum wollen die unterschiedlichsten Menschen ihre Realitäten ändern?

Vielerlei sind die Motivationen, vielschichtig die Gründe, komplex die Ursachen aus welchen  lateinamerikanische Frauen und Männer Grenzen zwischen Ländern des eigenen Kontinentes und transkontinentale Grenzen überschreiten.

Bei einer Analyse darf nicht aus den Augen verloren werden, wie heterogen Migrationsprozesse sein können, und dass die sozialen AkteurInnen, die ihr Leben in die Hand nehmen und aktiv ihre Lebenssituation ändern möchten, immer nach einer Verbesserung dessen suchen, was sie in ihren Herkunftsländern oder Aufenthaltsorten nicht mehr zufrieden stellt.

In den 70er Jahren verursachten autoritäre Regime und  Militärdiktaturen in Südamerika eine starke politisch motivierte Migration innerhalb Lateinamerikas und nach Europa. Diese Migration bestand hauptsächlich aus ChilenInnen, ArgentinierInnen, UruguayanerInnen, ParaguayanerInnen und BolivianerInnen.

Die 80er Jahre gelten für Lateinamerika als „das verlorene Jahrzehnt”, da während dieser Zeit die ökonomische Entwicklung nur auf die Optimierung einiger makroökonomischer Kennziffern und die Steigerung des Wirtschaftswachstums reduziert war. Die gesamte Entwicklung ging nicht von einem Menschen-zentrierten Blick aus, in den man die wechselseitige Beziehung zwischen sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit, Demokratie und der Respektierung von Menschenrechten berücksichtigen würde.
Lateinamerika ist das beste Beispiel dafür, dass sich Reichtum an Naturressourcen und Mineralien, wirtschaftliches Wachstum, Erhöhung der Exportkapazitäten und verstärkter Zufluss ausländischen Kapitals nicht automatisch in einer Verbesserung der Lebensqualität niederschlägt, solange  strukturelle Defizite nicht beseitigt und entsprechende politische und soziale Rahmenbedingungen nicht geschaffen werden.



Die Einführung des neoliberalen Wirtschaftsmodells bewirkte unter dem aggressiven „Manchester”-Kapitalismus und einer oftmals korrupten, skrupellosen politischen Klasse auf nationaler Ebene eine starke Zunahme sozialer Probleme, die sich vor allem in einer hohen Arbeitslosigkeit, verstärkter Ungleichverteilung der Einkommen und der deutlichen Erosion von Sozialleistungen wiederspiegelt. Eines der schwerwiegendsten sozialen Probleme Lateinamerikas ist nach wie vor die Massenarmut, die auch gegenwärtig keine abnehmende Tendenz aufweist: die Zahl der unterhalb der Armutsgrenze lebenden Menschen in Lateinamerika entspricht etwa einem Anteil von 46 bis 62 % der Gesamtbevölkerung. All diese Phänomene können nicht nur als soziale Kosten angesehen werden, sondern sind vor allem ein klarer Ausdruck einer in den Abgrund führenden Entwicklung, die die Inkompatibilität zwischen der ökonomischen und der sozialen Sphäre der Gesellschaft in den Vordergrund stellt.

Die Regierungen in Lateinamerika in ihrer Rolle als Wirtschaftsregulatoren sind sozial unoperativ und nicht in der Lage, Arbeitskräftepotentiale in Erwerbsarbeit zu integrieren. Gleichzeitig werden jedoch als Ergebnis der Modernisierungsprozesse und aufgrund von technologischen und betriebswirtschaftlichen Innovationen immer mehr Menschen „ausgegliedert”. Dieser Ausdruck von Gewalt in seinen unterschiedlichsten Formen hat einen direkten Einfluss auf die gegenwärtige Migration aus Lateinamerika. Festzuhalten ist, dass heutzutage der größte Anteil der lateinamerikanischen MigrantInnen versucht sozialer, ökonomischer und institutioneller Gewalt zu entfliehen.

Frauen sind in Lateinamerika von Armut, dem Ausschluss vom Arbeitsmarkt, physischer und psychischer Gewalt weitaus stärker betroffen als Männer. Einerseits haben sie keine eigenen oder nur geringe monetäre Einkünfte, da sie nur marginal in den Arbeitsmarkt integriert sind, andererseits erhalten sie für gleiche Tätigkeiten weitaus weniger Bezüge als Männer. Das bedeutet, dass ein sehr großer Teil der Frauen vor allem im sogenannten informellen Sektor tätig ist, speziell in jenen Segmenten, die durch die geringste Produktivität sowie die niedrigsten Qualifikationsanforderungen und Löhne gekennzeichnet sind.

Die Unterschiede in den Einkünften zwischen Männern und Frauen mit vergleichbarer Tätigkeit und Qualifikation sind immer noch enorm und weitaus größer als in den Industrieländern des Nordens. So ergab eine Untersuchung von 13 lateinamerikanischen urbanen Zentren, dass die Durchschnittslöhne der Frauen lediglich einem Anteil zwischen 40 und 77 Prozent der Durchschnittslöhne der Männer entsprechen.

Die besondere Betroffenheit von Frauen ergibt sich auch noch aus der Tatsache, dass die Zahl der Haushalte, denen Frauen vorstehen, außerordentlich stark zugenommen hat. Statistische Daten sagen aus, dass in den 70er Jahren 15% der Frauen Haushaltoberhaupt waren, während dieser Anteil im Jahr 2000 auf 36 %  gestiegen ist. Gerade jene Familien sind in Lateinamerika besonders verwundbar, da spezielle Unterstützungsleistungen wie beispielsweise in Deutschland entweder unzureichend sind oder gänzlich fehlen. Aufgrund dieser  Tatsachen kann man vor einer zunehmenden Feminisierung der Armut sprechen.  Gewalt gegen Frauen sowohl im häuslichen, als auch im öffentlichen Bereich ist in Lateinamerika ein weit verbreitetes soziales Problem. Diese Umstände spiegeln sich in der Zahl der MigrantInnen aus Lateinamerika wieder, die mehrheitlich weiblich sind.
 


Lateinamerikanerinnen verfolgen mit der Entscheidung nach Europa und nach Deutschland zu migrieren oft die Verwirklichung eines Traums, der vielleicht nur in ihrer Vorstellung existiert und unvollständig bleibt: Die Aussicht auf bessere Jobs, bessere Löhne, bessere Bildungsmöglichkeiten, bessere Arbeitsperspektiven, sich zu verlieben, bessere Männer zu finden, sichere Lebensbedingungen, sich in einer friedlicheren Umwelt zu entfalten ohne so große wirtschaftliche Sorgen und ohne Gewalt.
Aber was die Realität in Deutschland vielen lateinamerikanischen Migrantinnen beschert – vor allem wenn sie ohne Papiere einreisen – sind prekäre Arbeitsbedingungen ohne Sozialleistungen, Arbeitsbedingungen in denen sich auch Geschlechterungleichheiten weiter reproduzieren, schlechtbezahlte Jobs wie: Hausarbeit, Putzen, Babysitting, Krankenpflege oder die Prostitution, der Ausschluss vom Gesundheitssystem, soziale Ausgrenzung und Diskriminierung, da oft ihre Qualifikationen nicht anerkannt werden. Viele diese Frauen haben Schulden gemacht um ihre Reisekosten zu bezahlen und brauchen lange Jahre um diese Forderungen zu tilgen, bevor sie ihre Familien in der Heimat unterstützen können.

Das Positive an der Migration wird aber oft von den Migrantinnen selbst erwähnt, zum Beispiel dass sie durch den räumlichen Wechsel als selbstbestimmt handelnde soziale Akteurinnen ihren Horizont erweitern. Sie nehmen wahr, wie sie der neuen Kultur mit Neugier, aber auch kritisch begegnen, andere interpersonelle Interaktionsstrukturen erlernen, diese aber auch bereichern und transformieren. Ihr Selbstbewusstsein wird im Allgemeinen durch das Meistern der schwierigen Situationen gestärkt. Ihre gesellschaftliche Anerkennung wächst, da ihr Status als  „Haupternährerin”der Familie sichtbar wird. Hinzu kommt die Entstehung einer sozialen Vernetzung mittels neuer Freundschaften und Bekanntschaften, mit denen wichtige Informationen ausgetauscht werden um beispielsweise bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu erhalten. Es entfaltet sich eine bewusste Solidarität, die den MigrantInnen hilft in der neuen Situation besser überleben zu können.
Migration kann daher als ein dynamischer Prozess verstanden werden, in dem soziale Räume neu entstehen, verknüpft oder transformiert werden.