de en es pt

Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte in Paraguay

Ein Reader des FDCL - Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika, Berlin, März 2008

Herausgegeben von:

FDCL (Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile - Lateinamerika)
Im Mehringhof, 3. Aufgang, 5. Stock, Gneisenaustr. 2a, 10961 Berlin
Tel: ++49 (0) 30-693 40 29
Fax: ++49 (0) 30-692 65 90
E-Mail: archiv@fdcl.org
Homepage: http://www.fdcl.org

Textzusammenstellung:
Sebastian Henning
Joann Picard
Leonie Herbers

Redaktion:
Sebastian Henning

Titelfoto:
Reto Sonderegger


Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte in Paraguay

Ein Reader des FDCL

Einleitung

Die vorliegende Textsammlung liefert Einblicke in Geschichte und aktuelle Entwicklungen Paraguays und nimmt dabei insbesondere die Lage der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen (Menschenrechte (WSK-Rechte) in diesem Land in den Blick. Dafür bieten sich in diesem Jahr gleich zwei Anlässe.

Zum einen wird im Dezember das sechzigjährige Jubiläum der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahr 1948 begangen – angesichts anhaltender unzähliger Menschenrechtsverletzungen ist dies zwar kein Grund zum Feiern, doch konnten auch bescheidene Fortschritte erzielt werden. So gibt es eine wachsende internationale Aufmerksamkeit und Diskussion über menschenrechtliche Fragen, die allmählich auch mit der Schaffung und dem Ausbau internationaler juristischer Institutionen einhergeht.

Zum anderen finden im April 2008 die vierten freien Wahlen nach dem Ende der jahrzehntelangen Stroessner-Diktatur statt. Die zusammengetragenen Texte sollen – unabhängig vom Ausgang der Wahlen – als Grundlage für eine kritische Begleitung zukünftiger politischer Maßnahmen dienen und Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit emanzipatorischen Akteuren in Paraguay aufzeigen.

Das erste Kapitel führt in die Thematik der WSK-Rechte ein, die als Teil des internationalen Menschenrechtssystems zwar zunehmend ihren Platz in offiziellen Diskursen finden, allzuoft jedoch im Handeln der politisch Verantwortlichen nicht von Bedeutung sind. Die Perspektive richtet sich hier zunächst auf die allgemeine Situation in Lateinamerika.

Das zweite Kapitel stellt Paraguay vor. Hier erfolgt zunächst ein grober Überblick zum geschichtlichen und politischen Kontext. Einer Einführung sowie einer Chronologie von für das Land zentralen Ereignisse sind Texte zur jüngeren Entwicklung Paraguays nachgestellt.

Im dritten Kapitel, dem Hauptteil, werden verschiedene Aspekte im Zusammenhang mit der Verletzung von WSK-Rechten betrachtet. In einem agrarisch geprägten Land wie Paraguay steht dies zumeist mit der Landwirtschaft bzw. mit den Kämpfen um Land im Zusammenhang. Deutlich wird auch, dass zumeist verschiedene Menschenrechte – wirtschaftliche, soziale und kulturelle ebenso wie bürgerlich-politische – gleichzeitig verletzt werden. Nach dem Blick auf die Forderung nach einer Agrarreform durch gesetzliche Maßnahmen werden die Praxis der Landbesetzungen durch Kleinbäuer_innen sowie die Rolle deutscher Landbesitzer_innen aufgezeigt. Ein weiteres Thema ist die zunehmende Landnahme zum Anbau von Soja zur Deckung der immer höheren Nachfrage der Länder des Nordens nach Futtermitteln und Agrotreibstoffen, die großen Teilen der ansässigen Bevölkerung die Grundlage ihrer Existenz nimmt und ihre Ernährungssouveränität bedroht. Dabei wird auch die Situation der indigenen Bevölkerung aufgezeigt, die besonders von diesem Prozess betroffen ist.

Am Ende findet sich eine Sammlung von Links und Literaturhinweisen, die eine weiterführende Beschäftigung mit einzelnen der angesprochenen Bereiche und Akteure ermöglichen soll.


Anmerkungen:  Die Schreibweise mit dem Unterstrich stellt den Versuch dar, patriarchale und geschlechternormative Sprach- und Denkmuster zu unterlaufen. Im Gegensatz zur früheren, feministisch inspirierten, Schreibweise mit großem „I”soll sichtbar werden, dass an gesellschaftlichen Prozessen neben Männern nicht nur Frauen ihren Anteil haben, sondern auch Menschen, die nicht den „klassischen”Geschlechterstereotypen entsprechen –  z.B. Transsexuelle, Intersexuelle und Transgender – und oft von besonderen Diskriminierungen und Ausschlüssen betroffen sind.


Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte


Einführung: WSK-Rechte als Teil des universellen Menschenrechtssystems

Die Idee der Menschenrechte als allen Menschen unterschiedslos zukommendes natürliches Recht lässt sich bis zur Philosophie der griechischen Antike, aber auch Traditionen nicht-westlicher Philosophie zurückverfolgen. Im Zuge der europäischen Aufklärung fand sie mit den Vorstellungen des britischen Philosophen John Locke zunächst Eingang in die liberalen Verfassungen der USA und Frankreichs und später zahlreicher anderer Staaten. Eine internationale Verankerung im Völkerrecht fand jedoch erst im 20. Jh. nach den Erfahrungen der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland statt. Neben weltweiten Abkommen und Instrumenten der UNO, existieren auch einige regionale Menschenrechtsabkommen, etwa die durch den Europarat ausgearbeitete Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK, 1953) und die im Rahmen der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) erarbeitete Amerikanische Menschenrechtskonvention (AMRK, 1978).
    In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Generalversammlung der UNO vom 10. Dezember 1948 wurden neben bürgerlichen und politischen Rechten auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte (WSK-Rechte) aufgeführt. Am 16. Dezember 1966, nach langjähriger Erarbeitungs- und Diskussionsphase, wurden dann zwei als unteilbar aufgefasste Menschenrechtspakte von der damals aus knapp 120 unabhängigen Staaten bestehenden Weltgemeinschaft einstimmig angenommen.
    Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR/Zivilpakt) beinhaltet die klassischen bürgerlich-liberalen Abwehrrechte des Individuums (vor allem gegenüber dem Staat), etwa das Recht auf Leben, auf persönliche Freiheit und Sicherheit oder ein faires Gerichtsverfahren. Weiterhin enthält er die demokratischen Partizipationsrechte, etwa Wahlrecht und Versammlungsfreiheit. In einem Fakultativprotokoll zum Zivilpakt konnten die unterzeichnenden Staaten auch das Recht auf Individualbeschwerde einräumen. Dabei handelt es sich um die Möglichkeit einer einzelnen Person, vor einem internationalen Gremium um Hilfe zur Durchsetzung persönlicher Rechte zu ersuchen. In Anlehnung an die ideengeschichtliche Entwicklung wird bei dieser Gruppe von Rechten auch von der „ersten Generation”der Menschenrechte gesprochen.
    Im zeitgleich geschlossenen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPWSKR/Sozialpakt) werden Teilhabe- bzw. Leistungsrechte angemahnt, die vor allem auf die Forderungen der Arbeiter_innenbewegung nach besseren Lebensbedingungen für alle Gesellschaftsmitglieder zurückgehen – eine Folge der Prekarisierung weiter Teile der Bevölkerung im Zeitalter der Industrialisierung. Diese beinhalten vor allem das Recht auf Nahrung, das Recht auf Arbeit (inklusive des Rechts auf sichere und gesunde Arbeitsbedingungen sowie darauf, Gewerkschaften zu bilden und zu streiken), das Recht auf soziale Sicherheit und einen angemessenen Lebensstandard, auf Gesundheit, auf Bildung und das Recht, am kulturellen Leben teilzuhaben. Diese „zweite Generation”der Menschenrechte muss jedoch, so lässt sich aus dem Wortlaut des Sozialpakts interpretieren, nur nach den eigenen Möglichkeiten des jeweiligen Staats angestrebt werden, die Erreichung des Ziels ist nicht verbindlich festgeschrieben. Staatliche Akteure versuchen daher allzuoft, unter Verweis auf ihre Bemühungen und mangelnde Ressourcen die Verwirklichung der WSK-Rechte aufzuschieben. Zudem besteht bislang keine Möglichkeit der Individual- oder Gruppenbeschwerde. Beide Pakte traten erst 1976 in Kraft, nachdem sie durch die geforderte Mindestanzahl von 35 Staaten ratifiziert worden waren.
    Als „dritte Generation”der Menschenrechte werden die im Rahmen der Dekolonisation vor allem von den nun unabhängigen Staaten des Südens geforderten internationalen Solidaritäts- bzw. kollektiven Anspruchsrechte bezeichnet. Diese umfassen unter anderem das Recht auf Entwicklung, das auf Frieden und das auf eine gesunde Umwelt. Diese Gruppe von Menschenrechten – deren Einlösung maßgeblich des gemeinsamen Engagements im globalen Maßstab bedarf – wurde nach Ende des Ost-West-Konflikts 1993 auf der Wiener Menschenrechtskonferenz postuliert (Vienna Declaration and Program of Action). Der Anspruch auf diese Rechte ist bisher jedoch umstritten und durch keinerlei verbindliche Regelungen gewährleistet, obwohl die Staatengemeinschaft in Wien die Interdependenz und Universalität der drei Generationen von Menschenrechten  hervorhob.
Zusätzlich wurden zahlreiche Konventionen ratifiziert, die Beschlüsse zu einzelnen Problembereichen und besonders stark von Menschenrechtsverletzungen betroffenen Gruppen enthalten, und mit entsprechenden UN-Institutionen ausgestattet. Dazu gehören etwa die Rassendiskriminierungskonvention (1969) die Frauenrechtskonvention (1981) die Kinderrechtskonvention (1989) und die Wanderarbeiterkonvention (2003). Im Jahr 2007 wurde zudem eine Allgemeine Erklärung zu den Rechten der indigenen Völker verabschiedet, die bislang allerdings keinen bindenden Charakter hat. Im Bereich der Arbeitsrechte sind außerdem die von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), einer Sonderorganisation der UNO, erarbeiteten Konventionen und Empfehlungen von Bedeutung. Zusätzlich wurde versucht, auch nichtstaatliche Akteure der Privatwirtschaft moralisch zur Einhaltung verschiedener menschenrechtlicher Grundsätze zu verpflichten: Im sogenannten Global Compact können sich seit 1999 Unternehmen freiwillig zur Einhaltung sozialer und ökologischer Mindeststandards verpflichten, was allerdings ohne Prüfverfahren völlig unverbindlich bleibt und keinerlei Kontrolle über tatsächliche Unternehmenspraktiken ermöglicht.
    Prinzipiell sind die einzelnen Staaten verpflichtet, ihren Bürger_innen die Ausübung ihrer Menschenrechte zu ermöglichen. Dabei lassen sich Respektierungspflichten, Schutzpflichten und Gewährleistungspflichten unterscheiden. Respektierungspflichten verbieten es dem Staat, aktiv einzelne Bürger_innen oder Bevölkerungsgruppen an der Ausübung ihrer Rechte, etwa durch polizeiliche Maßnahmen, zu hindern. Die Schutzpflichten umfassen die staatliche Verantwortung, die Verletzung von Menschenrechten durch Dritte, etwa privatwirtschaftliche Unternehmen, zu verhindern. Die Gewährleistungspflichten erfordern darüber hinaus die Ausarbeitung umfassender infrastruktureller Programme, etwa die Schaffung eines für alle zugänglichen Gesundheitssystems. Rein rechtlich obliegen den Nationalstaaten diese Pflichten jedoch nur, sofern sie sich in ihren Verfassungen dazu bekannt haben oder entsprechende regionale oder internationale Menschenrechtsabkommen ratifiziert haben.
    Bei der Verletzung von WSK-Rechten können Betroffene zunächst versuchen, auf nationaler Ebene gerichtlich vorzugehen. Da die nationalen Rechtssysteme jedoch oft mangelhaft sind und mächtige bzw. finanzkräftige Akteure ihren Interessen eher Geltung verschaffen können, besteht oft nur noch die Möglichkeit, sich an internationale gerichtliche Instanzen zu wenden, die dann Druck auf die einzelnen Staaten ausüben, bestehende vertragliche Verpflichtungen einzuhalten. Dazu bedarf es allerdings zunächst zivilgesellschaftlicher Gruppen, die Betroffene über ihre Rechte aufklären, bei dem Einlegen juristischer Mittel unterstützen sowie eine breite internationale Öffentlichkeitsarbeit leisten.
    Da auf UN-Ebene keine Möglichkeit der Individualbeschwerde zur Durchsetzung von WSK-Rechten besteht, bietet sich hier nur der Umweg über eine Beschwerde gegen die oft damit einhergehende Verletzung bürgerlich-politischer Rechte als Lösung an. Diese kann – sofern der betreffende Staat das 1. Fakultativprotokoll zum Zivilpakt ratifiziert hat – bei dem Menschenrechtsausschuss des Zivilpakts eingelegt werden, nachdem alle innerstaatlichen Gerichte vergeblich angerufen wurden. Die vom Ausschuss dann verlautbarten Rechtsansichten haben zwar keinen bindenden Charakter, üben aber moralischen Druck auf die entsprechende Regierung aus. Der Sozialpakt bietet im Gegensatz dazu als einziges Kontrollinstrument die Staatenberichte an den Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (CESCR), in denen die beigetretenen Staaten alle fünf Jahre Rechenschaft über die aktuellen Entwicklungen im Bereich der WSK-Rechte ablegen müssen. Oft werden hier von Nichtregierungsorganisationen Parallelberichte erstellt, die dem Ausschuss gezielte Fragen zu kritischen Themen ermöglichen. Zudem wurden Sonderberichterstatter_innen zu bestimmten Ländern, Personengruppen und Themen ernannt, die durch Besuche vor Ort und Appelle eine besondere internationale Aufmerksamkeit schaffen können, z.B. für das Recht auf Nahrung, für das Recht auf Gesundheit und für Frauenrechte.
    Auf OAS-Ebene besteht die Möglichkeit, Individualbeschwerden gegen die Verletzung von bürgerlich-politischen Rechten bei der Interamerikanischen Menschenrechtskommission einzulegen, die nach Prüfung der Voraussetzungen an den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte weitergeleitet werden. Zur AMRK wurde außerdem ein Zusatzprotokoll über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte unterzeichnet (Protokoll von San Salvador), das bislang allerdings erst von 12 Staaten ratifiziert wurde.



 

Inhaltsverzeichnis



Einleitung .......................................................................................... 5



1 Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte ............ 7



2 Paraguay .................................................................................... 35

 

Einführung: Paraguay .................................................................... 35

Daten zur Geschichte .................................................................... 37

 


3 WSK-Rechte in Paraguay ......................................................... 71

 

Einführung: Aktuelle Konflikte........................................................ 71


Agrarreform ................................................................................ 73


Landbesetzungen ........................................................................ 79


Deutscher Landbesitz ................................................................. 83


Soja-Monokulturen und die Folgen ............................................ 86

 

Indigene Gemeinschaften ......................................................... 101


Links und Literatur ...................................................................... 109





 

 

This publication was made possible through the financial support of the European Community. The opinions expressed therein represent the opinion of the author and do not represent the official opinion of the European Community.

This publication  was elaborated within the framework of the cooperation-project "Handel-Entwicklung-Menschenrechte" of the Heinrich Böll Foundation (hbs), the Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL), and the Transnational Institute (TNI). More information at:

http://www.handel-entwicklung-menschenrechte.org 


FDCL, Berlin: fdcl-berlin.de/de/
TNI - Transnational Institute, Amsterdam: www.tni.org
Fundação Heinrich Böll, Rio de Janeiro: www.boell-latinoamerica.org/pt/nav/35.htm
Heinrich Böll Stiftung, Referat Lateinamerika, Berlin: www.boell.de