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LATEINAMERIKATAGE 1991:

"500 Jahre Unterdückung - 500 Jahre Widerstand"

Veranstaltungen mit Franz J. Hinkelammert, Lula, Rosalia Francisca Gutierrez, Luzmila Chiricente-Mahuanca, Mercedes Manrique-Roque, Maryse Brisson, Paul Singer, Ursula Brunner, Maria Rosa Renzi, u.v.a.m., 13.-23.Juni 1991

Veranstaltet von: FDCL und Lateinamerika Nachrichten


[mehr zu den Lateinamerika-Tagen von FDCL und LN]

 

Lateinamerika-Tage 1991

-1492-

Das Jahr, das nicht zu Ende geht

 

500 Jahre Eroberung, 500 Jahre Widerstand" lautet das Motto der diesjahrigen Lateinamerikatage. Die grausame Eroberung Lateinamerikas mit Schwert und Kreuz ist oft beschrieben und angeklagt worden. Sie ist aber selbst in ihren krudesten Formen Teil der Gegenwart. Auch ums Gold geht es noch. Heute werden die Flüsse Amazoniens in unvorstellbarem Ausmaß durch Quecksilber verseucht, Quecksilber, das aus den reichen Ländern importiert wird und das die Goldgräber zur Goldgewinnung verwenden. Die Lebensräume der indigenen Bevölkerung werden zerstört, das Gold landet binnen kürzester Zeit in den "entwickelten" Ländern, für das Amazonasgebiet bleibt Zerstörung, Tod und der perverse Reichtum einiger Hasardeure. In die Schlagzeilen gerät Lateinamerika gerade jetzt durch das Vordringen der Cholera. Dieser Rückfall in die archaischen Formen des Elends symbolisiert die verzweifelte Lage des Kontinents. Die Cholera ist kein Naturereignis, die soziale Situation, die ihr Ausbreiten ermöglicht, ist das brutale Ergebnis der Entwicklungseuphorie der sechziger, der Militärdiktaturen der siebziger und IWF-Anpassungsprogramme der achtziger Jahre. Nie lebten so viele Menschen in absoluter Armut wie heute.

Aber der Beginn der neunziger Jahre markiert auch die Krise der großen Befreiungsvisionen in Lateinamerika. "Schafft zwei, drei, viele Vietnams" wird wohl heute niemand mehr skandieren wollen, und die Versuche Nicaraguas und Cubas, eigene, andere Wege zu beschreiten, sind in große Schwierigkeiten geraten.

Wenn heute nach dem Zusammenbruch des europäischen Sozialismus allerorten das "Ende der Geschichte"' proklamiert wird, so ist dieses Ende für die Mehrheit der Bevölkerung der "Dritten Welt" alles andere als glücklich. Den jetzigen Zustand zum "Ende" zu deklarieren ist geradezu obszön. Aber das Gerede vom Ende der Geschichte ist auch Ausdruck der Konzeptionslosigkeit offizieller "Dritte-Welt"-Politik. Die Banken, Regierungen und der IWF haben kaum mehr zu bieten als weniger Geid, hohe Zinsen und das Loblied der freien Marktwirtschaft. Und während hunderte von Milliarden DM in die Modernisierung der ex-DDR fließen, soll allein Brasilien die reichen Länder jährlich mit 10 Milliarden US-$ füttern.

Bei den fünften Lateinamerika-Tagen steht - im scheinbaren Widerspruch zum zentralen Motto - die Aufarbeitung und Diskussion der Gegenwart im Mittelpunkt. Das war weder intendiert noch von vorneherein absehbar. Aber die dramatische Präsenz des Gegenwartigen läßt die historische Aufarbeitung in den Hintergrund treten. Die Lateinamerika-Tage sollen dazu dienen, die aktuellen Debatten zu bündeln, um unter veränderten Bedingungen die Möglichkeiten von Widerstand und Befreiung neu zu diskutieren. Mit der Eroffnungsveranstaltung will das FDCL einen bewußten Akzent setzen: es sollen die zu Wort kommen, die von der offiziellen Geschichte am meisten ausgegrenzt worden sind, die indianischen Frauen. Für sie ist das Jahr 1992 eine große Chance, ihren unterdrückten und verschwiegenen Widerstand zum Ausdnick zu bringen.

Wir wollen auch der allgemeinen Katastrophenfixiertheit und dem Betroffenheitsgeschwafel entgegensteuern. Wenn heute Regierungschefs der reichen Länder den Staaten der "Dritten Weit" gute Ratschläge über Umweltpolitik erteilen, während in Deutschland der Autowahn (und damit die CO2 Emmissionen) ungeniert weiterwachsen, reiht sich diese Rede nur in herrschende Obszönität ein.

Aber für die Solidaritätsbewegung reicht es nicht, den Zeigefinger zu erheben, der eh nicht drohen kann. Die nur selbstgefällige Denunzierung des bestehenden Schlechten kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Ringen um konkrete Alternativen heute äußerst schwierig ist. Ohne gleich neue Konzepte oder (Gott sei Dank) neue Gurus präsentieren zu wollen, soll aber diese Debatte einer der Schwerpunkte der Veranstaltungen sein.

Die Lateinamerika-Tage - auch das war vorher nicht abzusehen - sind fast zu einem Mammutereignis geworden. Uns hat es selbst überrascht, wie viele Solidaritätsgruppen doch noch existieren oder neu entstanden sind. Unsere Leichen leben noch? Großveranstaltungen bergen auch Gefahren. Sie vermitteln das Gefühl von Bedeutung, auch wenn diese kaum noch vorhanden ist. Nicht in einem trotzigen "Seht, die Solidaritätsbewegung bringt auch noch was auf die Beine", sondern in der Möglichkeit einer vielfältigen Debatte, auch der lateinamerikanischen Gäste untereinander, liegt die Chance dieser Tage. Wir haben uns daher bemüht, kleinere mit größeren Veranstaltungen zu mischen, um der Gefahr des hohlen Spektakels zu entrinnen.

Das Programm der Lateinamerika-Tage ist zweifelsohne politlastig. Aber immerhin - Musik- und Theaterveranstaltungen, die Film- und Videovorführungen, bieten die Möglichkeiten, sich lateinamerikanischen Wirklichkeiten anders zu nähern - und auch Spaß zu haben, trotz alledem!

FDCL  im Juni 1991

 

Zum fünften Male hat in diesem Jahr das Forschungs-und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika (FDCL) die Initiative ergriffen, Lateinamerika-Tage in Berlin durchzuführen. Dabei hat das FDCL die Koordinierungsaufgaben übernommen und dieses Programmheft erstellt, während die Verantwortung für Inhalt und Durchführung der Veranstaltungen bei den einzelnen Gruppen liegt.

Die letzten Lateinamerika-Tage 1987 waren ein erster Auftakt zu der Kampagne gegen IWF und Weltbank. In ähnlicher Weise sollen die diesjährigen Lateinamerika-Tage kein isoliertes Ereignis bleiben. 1992, das Jahr in dem sich die Eroberung Lateinamerikas zum 500. Male jährt, wird (nicht nur) in Spanien von Regierungsseite zynischerweise als "Begegnung der Welten" gefeiert werden. In Lateinamerika hat sich bereits eine Gegenkampagne formiert, die Geschichte und Folgen der Conquista thematisieren und deren Opfer mobilisieren will. Dieses Jahr, in dem der EG-Binnenmarkt vollendet wird und die große UNO-Umweltkonferenz in Rio stattfindet, soll auch in Europa ein Jahr der Kampagnen und Aktionen sein. Die verschiedenen Gruppen und Einzelpersonen zusammenzuführen, um Voraussetzungen zu schaffen für vielfältige und koordinierte Aktivitäten im Jahre 1992, das ist eines der Hauptziele der Lateinamerika-Tage.

FDCL  im Juni 1991