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Lisa Luger / Bärbel Sulzbacher:

SOMOS

Nicaraguas Frauen zwischen Alltag und Befreiung


Redaktion Jutta Borner
Copyright FDCL-Verlag 1984
Übersetzung der Gedichte aus dem Spanischen: Jutta Borner, Lisa Luger
ISBN: 3-923020-03-1
1.Auflage Februar 1984, 270 Seiten

 

INHALTSVERZEICHNIS

  • Einleitung
  • Carmen und Esperanza: "Wir sind doch immer noch im Krieg"
  • DIE SITUATION DER FRAUEN UNTER DER SOMOZA-DIKTATUR
  • Die Unterdrückung beginnt: Die spanische Eroberung
  • Lebensbedingungen der Frauen unter der Diktatur
  • FRAUEN IM WIDERSTAND
  • Zur Geschichte des Volkswiderstandes
  • Die Entwicklung des organisierten Frauenwiderstandes
  • DIE FRAUENPOLITIK DER SANDINISTISCHEN REGIERUNG
  • AMNLAE - DIE SANDINISTISCHE FRAUENORGANISATION
  • "Wir Frauen haben mehr Verantwortung"
  • "Todos somos AMNLAE" - "Wir sind alle AMNLAE"
  • RECHTLICHE VERÄNDERUNGEN
  • GESUNDHEITSVERSORGUNG
  • Ulrike: "Vorbeugen ist besser als bohren..."
  • Probleme der medizinischen Versorgung
  • Sandra: "...aber die Patienten so schlecht zu behandeln ist nicht korrekt!"
  • FRAUEN AUF DEM LAND
  • Erstes nationales Treffen der Landarbeiterinnen
  • Rosa: "...diese ständige Angst, daß die Contras kommen"
  • PROSTITUTION
  • Laura: "...Da kommst du hin ziemlich jung und alt und verbraucht kommst du wieder raus."
  • Rosa: "...aber nicht immer reden und reden über Politik!"
  • "Es gibt keine andere Arbeit"
  • ERZIEHUNGSWESEN
  • Maria-Helena: "Nun buddelt alle mal ein Loch."
  • Liliana: "Man kann die Leute nicht zwingen, weil sie dann gleich glauben, es herrsche Kommunismus."
  • Ligia: "Meine Mutter meint, ich soll mich mehr um mein Kind kümmern."
  • Veränderungen im Erziehungssystem
  • FRAUEN IN TECHNISCHEN BERUFEN
  • Konflikt im Técnico La Salle
  • "Ich bin die erste Frau, die Automechanik studiert!"
  • Maira: "Bald wird der Machismo nur noch eine schlechte Erinnerung sein."
  • HAUSANGESTELLTE
  • Berta: "Manchmal habe ich den Eindruck, daß das Leben und die Revolution an mir vorübergehen."
  • Die Arbeitsbedingungen der Hausangestellten
  • KIRCHE IN NICARAGUA
  • Yolanda: "Ich bin nicht politisch, ich bin Christin!"
  • "Dank sei Gott und der Revolution"
  • DER BEDROHTE NORDEN
  • Potrerillo: "Wie lange wird der Elan noch anhalten?"
  • "Wir sind keine Militärs, sondern bewaffnete Bürger." (A.C. Sandino)
  • Luisa: "Ich möchte weinen, aber um Helden weint man nicht."
  • FRAUEN IN DER VERTEIDIGUNG
  • DAS BILD DER FRAU IN DER NICARAGUANISCHEN GESELLSCHAFT
  • "Die sexuelle Revolution in der Revolution"
  • ANHANG
  • Preise der wichtigsten Grundnahrungsmittel
  • Anmerkungen
  • Erklärung der Abkürzungen und spanischen Ausdrücke
  • Zum Weiterlesen

 

 


Einleitung
SOMOS - "Wir sind" ist der Titel der Zeitschrift, die von der sandinistischen Frauenorganisation AMNLAE herausgegeben wird. Er drückt das Selbstbewußtsein der nicaraguanischen Frauen aus, die sich an der Befreiung und der Revolution beteiligen und aktiv  ihre Forderungen nach Gleichberechtigung und Emanzipation vertreten.
Wir haben ihn auch als Titel für dieses Buch gewählt, weil hier nicaraguanische Frauen selbst zu Wort kommen sollen. Sie erzählen aus ihrem täglichen Leben, von ihren beruflichen  Erfolgen und Schwierigkeiten, ihren Beziehungen zu Männern, ihrem Engagement für die Revolution. Wir haben nicht die bekannten Persönlichkeiten interviewt, sondern  Lehrerinnen, Krankenschwestern, Landarbeiterinnen, Prostituierte, Hausangestellte usw. Sie vermitteln uns ein durchaus widersprüchliches Bild der Realität dieses mittelamerikanischen Landes. Uns geht es nicht darum, ein leuchtendes Bild der Frauenbefreiung durch die Revolution zu zeichnen,  sondern zu zeigen, wie diese Frauen leben.  Wir zeigen ein widersprüchliches Bild, weil die Wirklichkeit voller Widersprüche ist. Neben wirklichen Verbesserungen der Lage der Frau bestehen die alten Strukturen von Unterdrückung und doppelter Ausbeutung durch Lohn- und Hausarbeit fort.
Wir möchten mit diesem Buch einen Beitrag dazu leisten, daß die Solidarität mit Nicaragua nicht aufgrund allzu schneller Pauschalurteile ad acta gelegt wird. Wir sind der Meinung, daß wirkliche Solidarität nur dann möglich ist, wenn man auch die  Schattenseiten zur  Kenntnis nimmt, wenn man in der Lage ist, sie zu kritisieren und dann entscheidet, wen man wie unterstützt.
Die beiden Autorinnen sind in der Solidaritätsbewegung mit Nicaragua aktiv. Beide haben das Land besucht, bzw. längere Zeit dort gelebt. Von diesen Aufenthalten haben sie eine Fülle von Material mitgebracht: Interviews, Zeitungsausschnitte, Comics,  Fotos, Veröffentlichungen und Studien der Ministerien, Zeitschriften usw.
Das Buch will und kann nicht eine vollständige Darstellung der komplexen nicaraguanischen Realität sein. Es soll Einblicke geben in die verschiedenen  Bereiche des täglichen Lebens und die Erfahrungen nicaraguanischer Frauen, in ihr politisches Engagement und die Veränderung ihres Selbstverständnisses. Die Schwerpunkte, die wir gesetzt haben, entstanden aufgrund mehrerer Faktoren:
Wichtig war zunächst einmal unser persönliches Interesse am Sozial-, Gesundheits- und Bildungsbereich, womit wir uns schon vor unserem Aufenthalt in Nicaragua beschäftigt hatten. Bei den Interviews ergab sich  ein neuer Faktor; Zu manchen Frauen entstand eine persönliche Freundschaft, die die  intensiven Interviews - die auch sehr viele persönliche Aussagen enthalten - erst möglich machte. Bei anderen  Frauen dagegen, vor allem bei Vertreterinnen von Regierungsinstitutionen, Gewerkschaften oder gesellschaftlichen Organisationen bestand die Schwierigkeit, daß diese Frauen  sich zuallererst als Funktionsträgerinnen verstanden, und deshalb unter Zurückstellung ihrer persönlichem Meinung vor allem die offizielle Politik darstellten. Da die aber  in vielen anderen Veröffentlichungen nachzulesen ist, haben wir auf den Abdruck dieser Interviews verzichtet. Schließlich ließ uns die Zuspitzung der politischen Lage in Nicaragua es notwendig erscheinen, das Buch so schnell wie möglich fertigzustellen, um einen Beitrag zur aktuellen Information über die Situation im Land zu leisten.
Schon seit fast zwei Jahren ist Nicaragua von einer Intervention durch die USA bedroht. Die USA unterstützen die "Contras", die konterrevolutionären Gruppen, die an den Grenzen und in Teilen des Landesinneren versuchen, durch Überfälle die sandinistische Regierung zu destabilisieren. Deshalb wurde im März  1982 der Notstand ausgerufen. Seit 1983 haben sich die konterrevolutionären Aktivitäten weiter verschärft, die sich gezielt auf wichtige Punkte wie Produktionsstätten, Telekommunikationszentren, Hafeneinrichtungen, Lebensmitteldepots, die Energieversorgung, Gesundheitszentren,  Kindergärten richten. Gerade Lehrer und Einrichtungen der Erwachsenenbildung sind besonders häufig Opfer von Überfällen.
Die USA unterstützen die Contras finanziell, politisch und mit militärischer Ausrüstung. Die Armee des Nachbarstaates Honduras wird systematisch aufgerüstet, die militärische Infrastruktur an den Grenzen  zu Nicaragua wird ausgebaut. US-Truppen halten monatelange Übungen zusammen mit den Armeen der mittelamerikanischen Diktaturen ab und versuchen, den Nachschub nach Nicaragua durch eine Seeblockade zu unterbinden.
Auf wirtschaftlichem Gebiet haben die USA die Kredite an Nicaragua ausgesetzt und die Importquoten von nicaraguanischen Produkten, z.B. Zucker,  drastisch verringert, so daß das Land jetzt Schwierigkeiten hat, seine Ernten zu exportieren.
Politisch und diplomatisch diffamieren Angehörige der US-Administration die Regierung Nicaraguas als Handlanger Moskaus, als kommunistisches Verschwörernest und Gefahr für den Frieden in der Region,  um  Nicaragua politisch zu isolieren.
Die Auswirkungen dieser zugespitzten Lage waren auch bei unserer Arbeit spurbar: Gesprächstermine konnten nicht eingehalten werden, da die Frauen z.B.  von heute auf morgen zu  mehrmonatigen  Milizübungen einberufen wurden. Demonstrationen, Trauerfeiern und Beerdigungen von Freunden und Bekannten, die den Überfällen der Contras zum Opfer gefallen waren, machten die Einhaltung von Verabredungen oft unmöglich.
Dieses Buch ist keine wissenschaftliche Arbeit, sondern eine Art LESEBUCH, wobei die einzelnen Kapitel auch unabhängig voneinander gelesen werden können. Um  eine bessere Einschätzung der Lage der Frau im heutigen Nicaragua zu ermöglichen, haben wir eine knappe Darstellung der Situation unter der vierzigjährigen Diktatur der Somozas vorangestellt. Die weitere Strukturierung des Buches ist geprägt durch die Interviews mit den einzelnen Frauen. Sie berichten jeweils über ihre Arbeit und ihr persönliches Leben und machen uns so mit dem Alltag in Nicaragua bekannt. Wenn in den Interviews für das Verständnis wichtige Informationen fehlen, haben wir sie durch kurze Darstellungen oder Übersetzungen von Zeitungsartikeln ergänzt.
Bei der Kürzung und Bearbeitung der oft sehr langen Gespräche war es uns wichtig, die Frauen nicht zu zensieren, nicht die Stellen herauszustreichen, die nicht in unser Weltbild passen;  andererseits  haben  wir  aber auch unsere eigene Einschätzung und Problematisierung in die Darstellung miteinbezogen.
Durch alle Interviews hindurch zieht sich das Problem der Unterdrückung der Frau durch den Mann.  Nahezu jede Gesprächspartnerin kommt auf den "machismo",  die lateinamerikanische Ausprägung der  Männlichkeitsideologie, und seine Auswirkungen auf ihr Leben zu sprechen. Alle haben mit den traditionellen Vorstellungen über die Rolle den Frau zu kämpfen - denn diese starben keineswegs beim Sturz der Somoza-Diktatur im Juli 1979.
In den Gesprächen zeigt sich aber auch deutlich die andere Seite des "machismo": auch das Bild, das die Frauen von sich selbst haben, ist in starkem Maß von der Ideologie geprägt, daß eine Frau vor allem Hausfrau und Mutter zu sein hat. So müssen die Frauen nicht nur gegen Bewußtsein und Praxis der Männer angehen, sondern auch das Selbstbild ändern,  das ihnen seit Generationen beigebracht worden ist. Selbst bei politisch bewußten  Frauen zeigt sich, daß ihre Vorstellung von Emanzipation häufig darin besteht, sich in einer von männlichen Werten bestimmten Gesellschaft durchzusetzen, indem sie diese Werte unbefragt übernehmen. Da wir Autorinnen aus den Erfahrungen der bundesdeutschen Frauenbewegung einen anderen Emanzipationsbegriff entwickelt haben, empfanden wir es immer wieder als problematisch, wenn Frauen erklärten: Durch die Beteiligung am Befreiungskampf haben wir gezeigt, daß wir genauso fähig sind wie die Männer; oder: wir müssen beweisen, daß wir in Beruf und Verteidigung genauso gut sind wie die Männer.
Auch die Frauenorganisation AMNLAE setzt immer wieder bei dem traditionellen Frauenbild an, um beispielsweise über die Funktion der Frau als Mutter diese für die Aufgaben der Revolution zu gewinnen. Damit wird einesteils die Kontinuität des traditionellen Frauenbildes verstärkt, andererseits setzt sich aber die AMNLAE auch vehement für eine Veränderung dieses Frauenbildes ein. Es ist ihr beispielsweise gelungen, ein Gesetz gegen die "Kommerzialisierung der Frau" durchzusetzen, an dem sich auch die Bundesrepublik ein Beispiel nehmen könnte.
Der Hintergrund dieser oft widersprüchlichen Einstellung ist die Unterdrückung der lateinamerikanischen Frau auf verschiedenen, miteinander verflochtenen Ebenen. Die spanische Kolonisierung und später der Imperialismus Großbritanniens und dann der USA haben die Wirtschaft Nicaraguas deformiert: Produziert wurde nicht zur Versorgung der eigenen Bevölkerung, sondern für den Weltmarkt zur Bereicherung einiger weniger Familien und transnationaler Konzerne. Die Folgen trafen fast die gesamte Bevölkerung: Ausbeutung,  extreme Armut, Unterernährung, Analfabetismus. Die Frauen waren davon besonders stark betroffen: sie erhielten die geringsten Löhne, hatten die niedrigsten Bildungschancen und waren für die Erhaltung der Familie verantwortlich, wenn der Mann die Familie verließ. Sie waren die "Sklavinnen der Sklaven".
Auf politischer Ebene herrschte  in Nicaragua von 1936 bis 1979 eine brutale Diktatur unter der Somoza-Dynastie. Die große Mehrheit der Bevölkerung war von jeder Mitsprache in der Politik ausgeschlossen, jegliche Form von Opposition und Widerstand wurde grausam unterdrückt - und natürlich hatten die Frauen noch weniger Rechte und Möglichkeiten sich zu wehren. Ihre Diskriminierung war zeitweise sogar in der Verfassung festgeschrieben: "zum Schutz der Familie" wurde die  Frau ausdrücklich vom Gleichheitsgrundsatz ausgenommen.
Die dritte Ebene ist die patriarchalische Herrschaft, die die Frau in die Rolle der Dienerin des Mannes und der Mutter zwang, ihr das Recht auf Selbstbestimmung und Vertretung der eigenen Interessen, ja selbst das Bewußtsein, eigene Interessen zu haben,  nahm. Diese Form der Unterdrückung ist auch die beständigste.
Die Revolution beseitigte die juristische Diskriminierung der Frau, öffnete ihr - zumindest formalrechtlich - den Zugang zu politischen Funktionen und "Männerberufen", legte gleichen Lohn für gleiche Arbeit fest. Aber damit war die Diskriminierung der Frau in ideologischer und wirtschaftlicher Hinsicht noch lange nicht beseitigt. Die ökonomischen Strukturen der Unterentwicklung konnten in den vier Jahren der Revolution noch nicht beseitigt werden. Trotz einiger Fortschritte ist die Frau immer noch die Hauptleidtragende von wirtschaftlicher Not und sozialem Elend.
Diese Problematik zeigt sich auch in den Gesprächen mit den Frauen: sie betonen, wie wichtig es gerade  in der schwierigen politischen Situation Nicaraguas ist, gemeinsam mit den Männern gegen den Imperialismus und die Contras zu kämpfen, dahinter müßten frauenspezifische Forderungen zurückstehen. Gleichzeitig wird aber  in einigen Interviews klar, daß sie in der Praxis die Auseinandersetzung mit den Männern um ihre Rechte nicht scheuen, daß sie klar erkennen, daß sie nur dann wirklich die Revolution  verteidigen und voranbringen können, wenn sie ihre eigenen Interessen vertreten.
Der Kampf um die Gleichberechtigung und Emanzipation der Frau in Nicaragua muß also auf allen drei Ebenen gegen imperialistische, politische und patriarchalische Unterdrückung gleichzeitig geführt werden.
Das Buch wäre ohne die Hilfe und Offenheit der Frauen in Nicaragua nicht möglich gewesen. Die Bereitschaft zu Gesprächen war besonders groß bei den Frauen, mit denen schon seit längerem eine intensive persönliche Freundschaft besteht. Die Mitarbeit der nicaraguanischen Frauen müssen die Leser auch verstehen als ihr Bedürfnis, für ihre Situation auch im Ausland Verständnis zu wecken, sie hoffen auf unsere Solidarität. Diese Erwartung war für uns ein wichtiger Ansporn, Schwierigkeiten bei der Erstellung des Buches in Nicaragua und Berlin zu überwinden. Wir betrachten deshalb dieses Buch als einen Beitrag dazu, die Solidarität mit den nicaraguanischen Frauen und ihr Engagement für den Aufbau einer freien Gesellschaft zu stärken.


FDCL, Berlin, im Januar 1984