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Argentinien nach einem Jahr Regierung Kirchner - Versuch einer Bilanz

 

Informations- und Diskussionsveranstaltung mit

 

Osvaldo Bayer


(Argentinischer Schriftsteller, Historiker, Journalist und Publizist)


Zeit:

Freitag, den 9. Juli um 19.00 Uhr

Ort:

Mehringhof-Versammlungsraum, 2.Hof, Aufgang III (Theater), 1.Stock, Gneisenaustr. 2a, 10961 Berlin (U-Bhf. Mehringdamm)

 

veranstaltet von:

 

 FDCL

Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika

 

"Que se vayan todos", "Sie sollen alle abhauen", war die auf die politische Klasse des Landes abzielende Parole des Widerstandes und der sozialen Bewegungen in Argentinien vom 19. und 20. Dezemer 2001. Der damalige Amtsinhaber Fernando de la Rúa von der "Radikalen Bürgerunion" (UCR) trat noch 2001 zurück, nachdem er die brutale Niederschlagung von Demonstrationen in der Innenstadt von Buenos Aires angeordnet hatte. In der chaotischen Zeit danach schaffte es erst der vierte Übergangspräsident, Eduardo Duhalde von der peronistischen "Gerechtigkeitspartei" (JP), die Lage im Land zu stabilisieren und vorgezogene Präsidentschaftswahlen durchzuführen. Als Gewinner ging der Peronist Kirchner hervor, der am 25. Mai 2003 ins Amt eingeführt wurde. Nach zwei Jahren einer der schlimmsten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krisen war in Argentinien die Sehnsucht nach "Normalität" groß.

 

In seinem ersten Amtsjahr hat Kirchner Gespür dafür bewiesen, was das Volk bewegt. Innerhalb eines Jahres hat er es geschafft, eine eigene Machtbasis aufzubauen und sitzt heute fest im Sattel. Nach einer jüngsten Umfrage sind 73 Prozent der Argentinier mit Kirchners Arbeit zufrieden, eine Traumquote in Lateinamerika.

 

Gleich nach dem Amtsantritt begann Kirchner, verkrustete und korrupte Strukturen aufzubrechen. Auf den obersten Gerichtshof, der in seiner Mehrheit noch von dem ehemaligen Präsidenten Menem berufen wurde, übte er so lange politischen Druck aus, bis umstrittene Verfassungsrichter zurücktraten. Auf die vakanten Stellen berief er unabhängige Richter. Kirchner tauschte die Spitzen des Militärs gegen Offiziere aus, die unbelastet von der Diktatur zwischen 1976 und 1983 sind. Per internationalem Haftbefehl gesuchte Ex-Diktatoren sollen künftig an andere Länder ausgeliefert werden, sofern entsprechende Anträge und Beweise für Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorliegen. Eine weitgehende Amnestie für Militärs wurde auf Betreiben Kirchners aufgehoben: Das Gesetz über den Befehlsnotstand, das niederrangige Militärs von der Strafverfolgung ausnahm, und das Schlußpunktgesetz, durch das noch nicht verurteilte Militärs amnestiert wurden, wurden durch den Kongreß annulliert, - neue Hoffnung im Kampf gegen die Straflosigkeit? Die argentinische Justiz eröffnete zwei "Megaverfahren" gegen die Verantwortlichen der Militärdiktatur. Die Mechanikerschule der Marine, einst ein Folterzentrum, wurde in eine Mahnstätte verwandelt. Auch tauschte Kirchner die Führungsetage der Rentenkasse aus und ging gegen die verhasste und korrupte Polizeiführung vor, die vielfach mit Verbrechern gemeinsame Sache macht.

 

Zugleich verfolgte Kirchner eine Politik der Sondierung und des Dialogs gegenüber den sozialen Bewegungen. Bevor er durch seinen Arbeitsminister Teile der Protestbewegung als "Kriminelle" beschimpfen und später gegen sie Strafanzeige stellen ließ - hat er sie erst einmal empfangen. Gleich nachdem er in die Casa Rosada, den Präsidentenpalast, einzog, öffnete er die Türen für Vertreter von Menschenrechtsorganisationen, Gewerkschaften und Piqueteros, den organisierten Erwerbslosen, die im Krisenjahr viele Proteste angeführt hatten. Kirchner tat, was bisher kein argentinischer Präsident vor ihm getan hatte, er hörte sich die Anliegen der Oppositionsbewegung an und machte die Aufarbeitung der Militärdiktatur (1976-1983), in deren Verlauf Schätzungen zufolge 30 000 Menschen "verschwanden" und unzählige Verletzungen der Menschenrechten durch Militärs verübt wurden, ur Chefsache. So entwickelte sich die Unterstützung durch Menschenrechtsorganisationen zu einem der wichtigsten Pfeiler, auf dem Kirchners gutes internationales Image beruht.

 

Kritiker werfen Kirchner vor, er setzte auf schnelle und billige Erfolge, er pflege einen "egozentrischen, herrschsüchtigen und vorrangig auf mediale Wirkung ausgerichteten Regierungsstil". Kirchner hat sich bis jetzt vor allem um politische und ideologische Probleme gekümmert, aber noch nicht wirklich um die Wirtschaftsprobleme, von denen die Mehrheit der argentinischen Bevölkerung bedrängt wird. Obwohl das Bruttoinlandsprodukt 2003 wieder um 8,7 Prozent und in diesem um geschätzte 6,5 Prozent wuchs, ist jeder Fünfte der 14 Millionen Erwerbsfähigen ohne Arbeit. Weitere 20 Prozent gelten als unterbeschäftigt. Nach Berechnungen des nationalen Statistikamtes Indec lebt die Hälfte der knapp 37 Millionen Argentinier in Armut.

 

Hinter den Erfolgen im Bereich der Menschenrechte, hinter Kirchners öffentlichen Erklärungen, er werde nicht mehr Geld in den Schuldendienst stecken, sondern die Armut bekämpfen, verbirgt sich eine Kontinuität der neoliberalen Wirtschaftspolitik: Argentinien hat bislang alle seine Verpflichtungen gegenüber den internationalen Finanzorganisationen IWF, Weltbank und Interamerikanische Entwicklungsbank erfüllt - obwohl der Übergangspräsident Rodriguez Rodríguez Sáa im Dezember 2001 einen Zahlungsstopp erklärt hatte. Lediglich die Schulden bei den privaten Gläubigern wurden nicht bedient.

 

Der argentinische Schriftsteller, Historiker, Journalist und Publizist Osvaldo Bayer gehört zu den unermüdlichen Kämpfern für die Menschenrechte in Argentinien, für jene Bewegung, welche die Mütter von der Plaza de Mayo vor gut drei Jahrzehnten begründeten. Gemeinsam mit Osvaldo Bayer wollen wir versuchen, eine Bilanz des ersten Jahres der Regierung Kirchner zu ziehen. Kern und Ausgangspunkt der Betrachtung soll dabei die Menschenrechtspolitik sein.


Zu deren aktueller Brisanz auch hier, sei ein Blick auf die website der "Koalition gegen die Straflosigkeit in Argentinien" empfohlen: http://www.menschenrechte.org/Koalition/Aktuelles_Koalition.htm ,

Informationen speziell zum Fall Mercedes Benz gibt es auch bei http://www.labournet.de


Zur Erinnerung: Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth hatte am 27.11.2003 - zeitgleich zur Ausstellung von Haftbefehlen gegen Ex-General JorgeVidela und andere ranghohe argentinische Militärs a.D. in den Fällen Elisabeth Käsemann und  Klaus Zieschank durch das Amtsgericht Nürnberg-Fürth - ihre Ermittlungen in einem Teil der Fälle von Opfern der argentinischen Diktatur eingestellt. Die "Koalition gegen Straflosigkeit" hatte dagegen Beschwerde eingelegt.

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Weitere Veranstaltung mit Osvaldo Bayer:

 

Donnerstag, 8. Juli 2004, 18 Uhr


Simón-Bolívar-Saal im Ibero-Amerikanischen Institut, Potsdamer Str. 37, 10785 Berlin

 

Die Freunde des IAI laden ein:

Vortrag Osvaldo Bayer: Patagonia Rebelde

Das argentinische Militär verübte 1921 eines der schrecklichsten Massaker an der Landbevölkerung Patagoniens. Osvaldo Bayer, den man vielleicht als das journalistische Gewissen Argentiniens bezeichnen könnte, hat als erster die Zusammenhänge erforscht und in seiner vierbändigen Geschichte "Los vengadores de la Patagonia trágica" dokumentiert. Gleichzeitig schrieb er das Drehbuch zu dem Spielfilm 'Patagonia rebelde' von Héctor Olivera. 1974, vor dreißig Jahren, wurde das Werk in Buenos Aires uraufgeführt. Es gilt heute als einer der wichtigsten historischen Filme Argentiniens.

Osvaldo Bayer wird an die geschichtlichen Ereignisse und an die turbulenten Dreharbeiten erinnern. Und bestimmt wird dieser kompromisslose Verfechter der Menschenrechte sich nicht auf die Historie beschränken.
Vorführung der deutschen Synchronfassung! Moderation: Peter B. Schumann


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FDCL
Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika e.V.
Centro de Investigación y Documentación Chile-América Latina
Centro de Pesquisa e Documentação Chile-América Latina
Gneisenaustraße 2a
10961 Berlin, Alemania, Alemanha
Fon: 49-(0)30-693 40 29; -69 81 89 35
Fax: 49-(0)30-692 65 90http://www.fdcl.org/